Und wieder ist ein Jahr herum, und Weihnachten kommt immer wieder total plötzlich. Ich hoffe, es geht euch gut, und ihr könnt euch jetzt entspannt zurücklehnen und gemütlich mit euren Lieben feiern. Bei mir ging es in der letzten Woche vor Heiligabend ziemlich hektisch zur Sache, und der Titel des Weihnachtsmärchens ist durchaus auch selbstkritisch zu verstehen. Vielleicht sollte man einfach mal Ostern schon anfangen mit den Weihnachtsvorbereitungen. Wie auch immer: Ich wünsche euch ein frohes Fest, einen guten Rutsch und alles Gute für das neue Jahr. Und nun viel Spaß mit der Chaostruppe vom Nordpol. Hoho-hoho!
Santa der Prokrastinator
„Advent, Advent, ein Lichtlein brennt.“
„Schnauze.“
Der Weihnachtsmann schlug mit der Faust auf seinen sprechenden Wecker und drehte sich auf die andere Seite. Aber schon nach einer Viertelstunde quäkte der Wecker wieder los:
„Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier,
dann steht das Christkind vor der Tür.“
„Ich gehe jede Wette ein, dass das noch nicht wieder stehen kann“, grummelte der Weihnachtsmann. Sein Kopf fühlte sich doppelt so dick an wie sonst, und für einen Augenblick glaubte er, rosa Rentiere um sein Bett herumlaufen zu sehen. Der Männerabend mit Jesus und Knecht Ruprecht war definitiv keine gute Idee gewesen. Zum Osterhasen nochmal, warum hörte dieser vermaledeite Wecker nicht auf zu quatschen?
„Und wenn das fünfte Lichtlein brennt,
dann hast du Weihnachten verpennt“, sagte die freche Stimme. „Na, bist du endlich wach?“
Mit glasigen Augen stierte der Weihnachtsmann ihn an. Der Kopfschmerz war mörderisch. Zum Glück hatte Lucia, die fürsorgliche Weihnachtselfe, ihm eine Packung Kopfschmerztabletten auf den Nachttisch gelegt. Der Weihnachtsmann warf vier Pillen ein und spülte sie mit einem Becher Glühwein runter.
„Guten Morgen, Santa“, klang da auch schon Lucias glockenhelle Stimme durch den Raum. „Ich hoffe, dir geht es gut. Schließlich ist morgen dein großer Einsatz.“
„Morgen schon?“
„Ja, komisch, nicht? Weihnachten kommt immer so plötzlich“, kicherte sie. „Sei so gut, und unterzeichne das hier, da sind gerade noch 4000 Geschenke per Expresszustellung gekommen. Vermutlich, weil wieder jemand viel zu spät bestellt hat ...“
Mürrisch unterzeichnete er die Empfangsbestätigung. „Ist doch noch rechtzeitig“, knurrte er. „Just in time, so macht man das in einem modernen Unternehmen.“
„Modern? Püh. Wenn du wach bist, komm rüber ins Büro, da sind noch mindestens drei Säcke Weihnachtspost abzuarbeiten.“
„Sklaventreiberin.“
Als der Weihnachtsmann sich wenig später ins Büro schleppte, musste er über vier Riesensäcke voller Weihnachtswunschzettel steigen. Sein Gang war noch immer etwas unsicher, und in seinem Hinterkopf spielten gerade zwei Death-Metal-Bands gegeneinander „Last Christmas“ und „In der Weihnachtsbäckerei“. Heiliger Pfingstochse! Man sollte alle Weihnachtsliederkomponisten lebenslänglich ins Verlies Navidad werfen.
„Moin, Santa“, grüßte Karhu der Eisbär. „Hast du die Wünsche aus Australien schon bearbeitet? Ich würde dann die Pakete einladen.“
„Jetzt lass mich doch erstmal reinkommen.“ Der Weihnachtsmann griff sich stöhnend an den Kopf. Dann arbeitete er sich zum Schreibtisch vor und fuhr seinen Computer hoch.
„Santa, was macht die Ladung für Südafrika?“ Rudolf das Rentier steckte seine rote Nase zur Tür herein und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du wolltest die Lieferscheine schon vorgestern fertig machen.“
„Nun hetzt mich doch nicht so. Ich bin ein schwer kranker Mann. Aua.“
„Ja. Prokrastination heißt deine Krankheit. Aufschieberitis.“
„Ich fang ja schon an.“
Santa hatte inzwischen sein Email-Postfach geöffnet. Kaspar, Melchior und Balthasar hatten ihm eine animierte Glückwunsch-Postkarte geschickt, auf der ein Rentierschlitten in Neonfarben blinkte. Von der Hexe Befana kam ein Gif mit drei Schafen an der Krippe, die ihn mit zu Herzen gehendem Gesichtsausdruck anschauten, und in einer Sprechblase war zu lesen: „Ohne dich ist alles doof.“ Das St. Bethlehem Palace Hotel bot ihm einen exklusiven Urlaub zwischen den Jahren zu Sonderkonditionen für Stammkunden an. Und er hatte Eintrittskarten für das Wham!-Revival-Konzert auf Wolke 7 gewonnen.
„Watt is‘ nu‘? Krieg ich die Papiere für Australien?“
„Und ich für Südafrika?“
„Ja doch. Nur noch schnell Facebook checken, dann lege ich los. Wow, 2314 Freundschaftsanfragen. Oh, da ist ein Prinz, der mir sein Vermögen vererben will ...“
Rudolf und Karhu sahen sich an. „Santa, der Prokrastinator“, murmelte das Rentier.
„Das habe ich gehört.“
Das Telefon klingelte. „Hoho-hoho?“, meldete sich der Weihnachtsmann.
„Hallo, Herr Klaus, hier ist der Sender freies Grönland. Wir haben eine Anfrage von einer Schulklasse erhalten. Die Kinder würden gern wissen, woher Sie all‘ die vielen Geschenke bekommen. Kaufen Sie die alle selbst?“
„Hoho, nein, das wollte ich mal. Aber wissen Sie was? Damals bei meinem ersten Weihnachtseinsatz, da stand ich vor dem Spielwarenladen, und eine Stimme sagte zu mir: ‚Santa, klau ’s!‘ Und da ...“
Der Hörer wurde ihm aus der Hand gerissen. Lucia stand neben ihm und pfiff durchdringend in die Sprechmuschel. „Hallo? Sind Sie noch dran? Wir hatten offenbar gerade eine Störung. Sagen Sie den Kindern bitte, dass der Weihnachtsmann selbstverständlich alle Geschenke für sie persönlich auswählt und bezahlt. Nein, der Preis spielt ü-ber-haupt keine Rolle, er hat schließlich Geld wie Santa Meer.“
Sie legte auf und funkelte den Weihnachtsmann wütend an. „Die PR mache ich. Interviews grundsätzlich nur für Printmedien, und alles läuft über meinen Schreibtisch. Wenn ich eben beim Abwasch nicht zufällig das Klingeln gehört hätte, das hätte einen riesigen Shitstorm kurz vor Weihnachten gegeben ...“
„Ach, du wäscht gerade ab? Komm, lass mich das machen, du kriegst sonst Spülhände.“
„Fang endlich an zu arbeiten.“
Gegen Mittag hatte der Weihnachtsmann alles für seinen vorläufigen Jahresabschluss erledigt. Am frühen Abend waren auch die Steuerunterlagen sortiert, es fehlten nur noch ein paar Bescheinigungen über Spenden und Beiträge für Vereinsmitgliedschaften. Nach dem Abendessen gewann er 17-mal beim Solitärspiel, zwölfmal verlor er, und einmal hängte sich sein Rechner auf, weil die neue Facebook-Version mit den veralteten Leitungen am Nordpol nur bedingt harmonierte.
Gegen Mitternacht schließlich hatte der sprechende Wecker die Zeiger voll. Er hopste auf den Schreibtisch und quäkte so lange sein „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt“, bis der Weihnachtsmann endlich zur Kaffeemaschine ging und sich einen extra starken Muntermacher aufbrühte: zwei Drittel Kaffeepulver, ein Drittel heißes Wasser und drei Esslöffel voll Zucker als Energiespender.
„Am Abend wird der Faule fleißig“, brummte Karhu.
„Seid nicht so garstig, ihm ging es nicht gut heute Morgen“, meinte Lucia versöhnlich.
„Ach, wer saufen kann, kann auch arbeiten“, schnarrte Rudolf böse.
„Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt“, quäkte der Wecker. Dann schliefen alle vier ein, und nur Santa arbeitete einsam und unverdrossen die letzten vier Wunschzettel-Säcke ab.
*
„Advent, Advent, ein Lichtlein ...“
„Schnauze.“
Santa hob den Kopf und starrte aus blutunterlaufenen Augen auf den Computerbildschirm. Er hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen, und die Tastatur hatte ein hässliches Karomuster in sein Gesicht gestanzt. Aber auf dem Bildschirm war zu lesen: „Auftrag ausgeführt.“ Perfekt. Die letzten Geschenke hatte er auf seine Paketstationen in 27 verschiedenen Ländern liefern lassen, und die Eingangsbestätigungen waren alle angekommen. Nun noch ein extrastarker Kaffee, dann konnte es losgehen.
Draußen war es stockfinster. Nur die Glöckchen der acht Rentiere und Rudolfs rote Nase leuchteten durch die Polarnacht. Karhu trieb die Arbeitseisbären zur Eile an, als sie die letzten 10.000 Geschenke verluden. Sie waren gut zwei Stunden später dran als sonst, doch endlich war der Schlitten startklar. Der Weihnachtsmann rieb sich zufrieden die Hände. „Just in time, wie in einem modernen Unternehmen nicht anders zu erwarten. Alles in Ordnung, Rudi, alter Schattenparker?“
Das Leitrentier wiegte bedächtig sein Geweih. „Wie man’s nimmt. Über dem Atlantik tobt ein ziemlich heftiger Weststurm. Das wird ein Orkan, Santa. Stärke elf bis zwölf, in Böen 13 ist angesagt. Schätze, Amerika können wir heute vergessen.“
„Dir fehlt wohl ‘ne Glühbirne in der Nase, du Kreiselaußenfahrer“, empörte sich der Weihnachtsmann. „Ausgerechnet Amerika nicht beliefern, wo kämen wir denn da hin? Hast du unsere Werbeverträge mit Coca Cola vergessen?“
„Dann fliegt doch anders rum“, meinte die praktisch denkende Lucia. „Columbus ist auch in Richtung Indien gefahren, als er nach Amerika wollte. Die Erde ist schließlich eine Kugel.“
Santa hüstelte. „Das ist völliger Blödsinn. Aber ... es könnte klappen. Habt ihr gehört, ihr Rentiere? Wir fliegen diesmal ostwärts.“
„Und beeilt euch, wir sind schon wieder viel zu spät dran“, mahnte Lucia. Santa, Lucia und Karhu stiegen in den Schlitten. „Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“, quäkte der Wecker und hopste hinter ihnen her. Dann starteten die Rentiere durch, und mit Sturmgebraus, Glöckchenklang und Überschall-Knallen jagte der Schlitten in den schwarzen Himmel der Polarnacht.
*
„Terve, Joulupukki, hyvää joulua“, riefen die finnischen Kinder, als der Weihnachtsmann bei ihnen landete.
Die russischen Kinder freuten sich über den Besuch von „Deduschka morosch – Väterchen Frost“. Aber den Vätern sagte er: „Richtet eurem Chef aus, er kriegt nichts von mir. Ich schicke den Knecht Ruprecht vorbei.“
Knapp 200 Länder hatte Lucia auf ihrem Tourenplan. An jeder Station mahnte sie: „Und halte dich nicht auf, Santa. Wir sind spät dran.“
Und der Wecker plärrte: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt ...“
„Hoho-hoho“, lachte Santa. „Wir liegen gut in der Zeit, just in time, wie wir im Weihnachtsgeschäft sagen.“
Europa hatte Lucia gegen Mittag komplett abgehakt. Dann ging es ostwärts, nach Asien. Sie flogen über Länder und Flüsse. Hohe Berge türmten sich auf und zwangen die Rentiere, weiter aufzusteigen.
„Schaut mal, da unten liegt schon Indien“, freute sich Santa. „Ob ich wohl meinen alten Kumpel Buddha besuchen kann?“
„Dann hast du Weihnachten verpennt“, quäkte der Wecker.
Und er hatte gar nicht so unrecht. Denn es war schon Nachmittag, und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Erdkugel umrundet.
„Weihnachtsmann, wir müssten dann auch mal ...“, sagte Rudolf.
„Wie? Ihr wollt jetzt eine Pause machen?“
„Ich muss dich ja wohl nicht an die Arbeitnehmerrechte der Schlittenrentiere erinnern, oder? Laut Arktisflächentarifvertrag steht uns alle 7,5 Kilometer eine Pipipause zu. Da sind wir schon weit drüber.“
„Seit du in der Gewerkschaft bist, bist du unausstehlich“, knurrte der Weihnachtsmann. „Also gut, aber nur fünf Minuten.“
Der Wecker tickte nervös, als der Schlitten aufsetzte. „Advent, Advent, ein Lichtlein ...“
„Wissen wir“, brummte Karhu.
Der große Zeiger war schon bedrohlich weit vorgerückt.
Doch die Pause tat den Rentieren gut. Mit frischen Kräften hoben sie zu einem neuen Überschallflug an. Unter ihnen glitten Berge und Täler dahin. Es wurde kälter. „Hoho“, lachte der Weihnachtsmann. „Ich rieche Weihnachtsschnee.“
„Ja, ich auch“, sagte Rudolf. „Aber lustig wird das nicht. Schaut mal nach vorn.“
Eine graue Wolkenbank hatte sich am östlichen Horizont zusammengeballt. Eisiger Wind fauchte den Rentieren entgegen. Santa und Lucia drückten sich eng an Karhu und versuchten, sich an seinem Pelz zu wärmen. Da, die erste Schneeflocke.
„Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“, plärrte der Wecker.
„Schnauze!“, brüllte Rudolf.
Dann brach der Sturm los. Schnee, Eis und Hagel stürzten auf sie nieder, Sturmfäuste packten den Schlitten und schüttelten ihn wie einen Würfelbecher. Santa, Lucia und Karhu hielten sich verzweifelt fest, und wenn Lucia nicht rechtzeitig zugegriffen hätte, wäre der Wecker über Bord gegangen. Die Rentiere kämpften einen verzweifelten Kampf gegen die Naturgewalten. Dichter und dichter stürzten die Flocken auf sie ein, und obwohl Rudolf seinen stärksten Rotlichtstrahler einsetzte, konnte er keine Hufbreite weit sehen.
„Rumms!“
Der Aufprall war so hart, dass der Schlitten beinahe zerbrach. Das Holz ächzte, Geschenke purzelten aus dem Laderaum, der Schlitten stöhnte. Schneemassen stürzten auf sie ein. Bald war der Schlitten vollständig zugeweht. „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt“, quäkte der Wecker. Aber Sturm und Schnee tobten so laut, dass ihn niemand mehr hörte.
Stundenlang wütete der Sturm. Santa und seine Mannschaft saßen eng aneinander gekuschelt im Schlitten und zitterten vor Kälte . Doch endlich wurde es leiser um sie herum. Und noch leiser. Das Tosen und Brausen legte sich. Vorsichtig hob der Weihnachtsmann den Kopf. Doch es hatte sich eine meterdicke Schneedecke über sie gelegt.
„Hilfe! Hiiilfe!“, schrien die Verschütteten. Aber sie hatten wenig Hoffnung, dass jemand sie hörte.
„Noch drei Stunden bis Mitternacht“, seufzte Lucia beim Blick auf den Wecker. „Und wir haben noch nicht einmal Asien komplett geschafft. Von Amerika ganz zu schweigen ...“
Der Weihnachtsmann schluckte. Dass am 24. Dezember nur die Hälfte der Geschenke ausgeliefert wurde, das hatte es noch nie gegeben. Die armen Kinder.
Doch plötzlich hörten sie schleifende Geräusche über sich. Die Schneedecke wurde leichter. Santa hob den Kopf. Er konnte wieder sehen. Ein kleiner Sherpa mit einem großen Schneeschieber räumte den Schnee weg. „Ich habe ja schon viele seltsame Touristen hier oben auf dem Mount Everest getroffen, aber eure Landung war echt rekordverdächtig. Gestatten: Ich heiße Tenzing, und ich habe da drüben einen kleinen Andenkenladen. Falls ihr euren Familien eine Postkarte schicken wollt, ich habe auch Briefmarken ...“
„Bedaure, wir sind in Eile“, sagte der Weihnachtsmann. „Hüa, Rudi, trab an.“
Aber so sehr sich die Rentiere auch ins Geschirr warfen – der Schlitten saß fest.
„Wartet, ich hole meinen Yak, der ist kräftig.“
Der kleine Mann lehnte den Schneeschieber gegen den Schlitten und verschwand in der Nacht. Wenig später kehrte er zurück und zog eine zottige Kuh hinter sich her.
„Was soll dieser Grunzochse in meinem Gespann?“, rief Rudolf entsetzt. „Ich protestiere aufs Schärfste. Vermutlich hat das Rindviech nicht mal den Schlittengrundschein.“
Rudolf wurde jedoch schnell überstimmt. Der Yak wurde zwischen die acht Rentiere gespannt. „Hoo-Ruck! Hoo-Ruck!“, kommandierte der Weihnachtsmann. Aber der Schlitten saß unverrückbar fest im Schnee und rührte sich nicht von der Stelle.
„Eine Möglichkeit gibt es noch. Meine Kumpel sind ziemlich kräftig. Sie sitzen um diese Zeit immer im ‚Everest Inn‘, gleich da drüben. Wartet hier auf mich, geht nicht weg.“
„Wohin denn auch?“, fragte Santa. Er holte sich eine Cola aus dem Handschuhfach, verglich wehmütig den weißen Schriftzug auf rotem Grund mit den Farben seines Mantels und seufzte schwer. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, nicht so lange Solitär zu spielen, dachte er.
Inzwischen hatte der kleine Mann die Gipfelkneipe erreicht.
„Tür zu, es zieht“, schimpften die Yetis, als ein eisiger Windstoß durch den Gastraum fauchte. Sie hockten am Stammtisch und schlürften Gletscherwasser on the Rocks. „Mensch, Tenzing, alte Kletterziege, was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“
„Leute, ihr müsst mir unbedingt helfen. Der Weihnachtsmann ist dort oben am Gipfel mit seinem Schlitten verunglückt.“
Die Schneemenschen stießen ein wieherndes Gelächter aus. „Guter Witz, Alter, echt irre komisch. Fast so lustig wie damals, als du behauptet hast, du hättest Reinhold Messner gesehen.“
„Reinhold Messner ist kein Witz. Es gibt ihn wirklich.“
„Schon klar.“
Es dauerte lange, bis sich einer der Yetis überreden ließ mitzukommen. Der zottige Riese stand wie vom Donner gerührt da, als er die Schlittenkatastrophe sah. „Das ist ja wirklich der Weihnachtsmann. Donnerwetter. Ab jetzt glaube ich auch an Reinhold Messner“, stieß er hervor.
Bald hatten acht kräftige Schneemenschen den Schlitten befreit und auch die verstreuten Geschenke wieder eingesammelt, die der Weihnachtsmann in der Eile beinahe vergessen hätte. Feierlich überreichte Santa jedem der Helfer ein kleines Präsent, und dann ging es weiter in Richtung Osten.
„Noch eine Stunde“, flüsterte Lucia. „Das reicht vielleicht noch für Japan und Samoa, aber auf keinen Fall für Alaska.
„Und wenn ich mich ganz doll beeile?“, fragte Santa.
„Nützt nichts. Wir sind zu spät.
Es wurde eine traurige Fahrt. Zwar lächelte Santa gerührt, als ein kleiner japanischer Junge sich nach der Bescherung artig verbeugte und „Arigato, Weihnachtsmann-san“ sagte. Zwar freuten sich die Bewohner von Samoa und Kiribati sehr über die Ankunft des Weihnachtsmannes, mit der sie gar nicht mehr gerechnet hatten. Aber die Zeiger des Weckers rückten unerbittlich weiter voran. Beide standen genau auf der Zwölf, als die Rentiere an der Küste Alaskas landeten und der Schlitten sanft im Eis aufsetzte.
„Verloren. Alles verloren. Wir haben es nicht geschafft“, jammerte der Weihnachtsmann. „Ach, hätte ich doch gestern nicht so lange Solitär gespielt.“
Und der Wecker ließ traurig die Zeiger hängen und flüsterte: „... dann hast du Weihnachten verpennt.“
Die Rentiere senkten die Köpfe hängen. Karhu hatte Lucia in den Arm genommen und versuchte, die weinende Elfe zu trösten. Santa konnte noch nicht einmal mehr weinen.
„Jutdlime pivdluarit – Fröhliche Weihnachten!“, grüßte plötzlich ein Inuit. Er musterte den Weihnachtsmann verwundert. „Warum kommst du diesmal denn schon so früh?“
Santa schniefte. „Du must mich nicht auch noch verspotten. Es tut mir so furchtbar leid, dass ich es nicht mehr rechtzeitig zu Heilig Abend geschafft habe. Ich weiß, dass gestern ein ganz trauriger Tag für dich und deine Kinder war. “
Der Inuit machte große Augen. „Aber Heilig Abend, das ist doch heute. Der 24. Dezember hat genau vor einer Minute begonnen. Das ist die pünktlichste Weihnachtsbescherung, die wir jemals hatten.“
Santa kam langsam zu dem Schluss, dass der Mann ein wenig wirr im Kopf war. Aber als alle Kinder ihm ihre Adventskalender zeigten, aus denen sie das 24. Stück Schokolade noch nicht herausgeholt hatten, da begann er langsam zu glauben, dass er tatsächlich nicht zu spät gekommen war. Mehr noch: In allen Ländern Nord- und Südamerikas bestätigte man ihm, er sei noch niemals so früh mit seinem Schlitten vorgefahren wie an diesem Tag.
„Ist doch ganz einfach“, meldete sich schließlich der Wecker zu Wort, als sie mit einem tüchtigen Rückenwind über den Atlantik nach Hause flogen. „Als Uhr weiß ich natürlich, wie sich das mit der Zeit verhält. Wir sind immer nach Osten geflogen, immer in Richtung Sonnenaufgang. Und dabei haben wir eine Zeitzone nach der anderen durchquert. Ihr hättet mich auf der Reise eigentlich nach jeder Zeitzone eine Stunde zurückstellen müssen. Und als wir dann nach Alaska geflogen sind, haben wir die Datumsgrenze überquert. Drüben auf der anderen Seite ist schon der 25. Dezember, aber hier fängt der 24. Dezember erst an. Wir haben also gewissermaßen durch unsere Reise einen ganzen Tag gewonnen, kapiert?“
„Verstehe kein Wort“, brummte Karhu.
„Ich auch nicht“, sagte Lucia. „Für mich ist es einfach ein Weihnachtswunder.“
Dem Weihnachtsmann fielen inzwischen beinahe die Augen zu, so müde war er. Ganz egal, ob sie nun Zeit verbraucht oder gewonnen hatten, die Arbeit war dieselbe gewesen, und er hatte inzwischen zwei Nächte lang nicht geschlafen. Müde lehnte er sich gegen Karhu, und schließlich war er eingenickt. Er ließ sich auch am Ziel der Reise nicht mehr aufwecken, sondern schnarchte laut und ausdauernd mehrere Nächte hindurch. Ja, die Eisbären erzählten sich noch Jahre später hinter vorgehaltener Pfote die Geschichte, wie der Weihnachtsmann das Silvesterfeuerwerk verpennt hatte.
© Petra Hartmann