Teil vier meines Lese-Jahresrückblicks. Mein Lese-Urlaub auf Helgoland brachte mir viele phantastische Bücher, einiges aus der Zeit der Aufklärung (britisch, deutsch und Haskala), eine Menge Indianerbücher und etwas über antike "Buntschriftstellerei". Außerdem habe ich drei Astronominnen kennen gelernt, endlich Salman Rushdies "Satanische Verse" gelesen, mich mit alten Epen befasst und stelle euch mein Buch des Jahres vor - und die beiden größten Reinfälle des Jahres. Schaut halt mal rein, vielleicht findet ihr ja ein paar interessante Bücher zum Selbstlesen.
Hinweis:
Etwaige blau markierte Texte sind herausragende Spitzenbücher, rot steht für absoluten Mist, ein (e) hinter dem Titel bedeutet, dass ich den betreffenden Text in der eBook-Version gelesen habe, und hinter den Links verbergen sich ausführlichere Besprechungen innerhalb dieses Blogs.
November
Vico Siebensiegel: Farbentanz der Magie in den Träumen eines Nachtkerzenschwärmers
Ein kleines Büchlein, etwa im Reclamformat, das ein geheimnisvoll-bezauberndes Cover hat. Da musste ich auf dem BuCon einfach zugreifen. Erzählt wird die Geschichte zweier sehr ungleicher Wesen, die mit ihrem Zauber einen wunderbaren Garten schützen. Ein sehr schönes, geheimnisvolles Märchen, lesenswert.
André Boße: Die drei ??? - 100 Seiten (Reclam)
Cassettenkinder waren wir doch alle, oder? Das Reclamheft aus der Reihe "100 Seiten" geht dem Mythos der drei ??? nach, und man merkt sehr deutlich, dass der Verfasser ebenfalls ein Fan ist. André Boße erzählt von den ersten Bänden und der Idee, Alfred Hitchcock als "Paten" zu gewinnen, vom Marketing-Konzept und den Spannungen zwischen Buchreihe und Hörspiel, schwärmt von den Coverbildern von Aiga Rasch und stellt die Helden und wiederkehrende Verbündete und Gegner vor. Natürlich wird auch der Rechtsstreit aufgedröselt, der damals Buchverlag Franckh-Kosmos und Hörspiel-Label Europa getrennte Wege gehen ließ und die kurzlebige Hörspielreihe "Die Dr3i" entstehen ließ. Es gibt eine Statistik der meistgebrauchten Schlagwörter in den Titeln und Infos zu Ablegern wie "Die drei !!!" und "die drei ??? Kids". Außerdem geht der Autor der philosophischen Frage nach, warum die drei Junior-Detektive nicht altern dürfen und warum jede neue Folge wieder bei Null beginnt. Zugegeben, ich habe jetzt nichts hundertprozentig Neues erfahren. Aber es war einfach schön, mal wieder auf die alten Abenteuer zu blicken.
Werner Hermann: Das Anubis-Projekt
Kleines, schmales Taschenbüchlein aus dem Verlag Saphir im Stahl. Ich mag das Format. Der Text selbst ist etwas eklig. Es geht um wieder auferstehende Pharaonen, um Mumien, die wieder zum Leben erwachen und in Ägypten die Herrschaft übernehmen. Dass zwei Weltenretter - Ronin Erik und Artefakte-Pete aber zufällig sechs Jahre zuvor bereits die richtige Waffe gegen die Untoten gebunkert haben und dass Pete dann auch zufällig genau der Typ ist, den der Ich-Erzähler zur Hilfe ruft, das sind mir ein paar Zufälle zuviel. Aber ich vergebe einen Sonderpunkt für den überraschenden Schluss.
Sabrina Železný: Tod einer Andentaube
Frederik Hetmann: "Old Shatterhand, das bin ich ich"
Mal wieder ein typisches "Hetmann was here"-Erlebnis. Auf vielen meiner Interessengebiete hat der Autor ja seine Spuren hinterlassen, so auch mit dieser Biografie für junge Leser, die ich antiquarisch bei Amazon-Marketplace entdeckte.
Gut, wenn man bereits die Rowohlt-Monographie und ein paar andere Sachen über May gelesen hat, kennt man Mays Biographie natürlich. Aber es gibt doch zwei Sachen, die mich überrascht haben. Zum einen gibt Hetmann eine von Karl May erzählte Geschichte wieder, in der berichtet wird, wie Winnetou zu seinem Namen - "Brennendes Wasser" - gekommen ist. Das hatte ich bisher noch nie gelesen. Zum anderen macht Hetmann in May so etwas wie einen "absoluten Erzähler" aus und schildert dessen Fähigkeiten, aus Alltagssituationen oder dahingeworfenen Namen sofort eine Geschichte zu erfinden. Ein Automatismus, ein Reflex, der auch bei seiner Hochstapelei zum Tragen kam.
Was mich gewundert hat, ist, dass Hetmann "Ardistan und Dschinnistan" nicht liebte. Ich mag Mays Fantasy-Abenteuer sehr.
Juri Rytchëu: Die Frau vom See
Sehr schön gestaltetes Buch im Hosentaschenformat. Inhaltlich ein bisschen Tschuktschen-Legende, ein bisschen Pornografie. Aber irgendwie nett. Zwei junge Männer werden als Strafe, weil sie die Frauen des Dorfes überfallen und beschlafen, vom Schamanen in Zwerge verwandelt. Dann entdecken sie am See eine Frau, die sie in extreme sexuelle Erregung versetzt. Die beiden sind geil bis zum Anschlag, aber so winzig, dass die Frau sie nicht einmal wahrnimmt. Einer von beiden stirbt. Der andere erkennt langsam, was wahre Liebe ist ...
Eva von Kalm: Buchstabenblut
Ein kleines Taschenbuch, ebenfalls im Hosentaschenformat, das neun Kurzgeschichten beziehungsweise kürzere Erzählungen beinhaltet. Die Titelgeschichte handelt von einer Autorin, die allein in ihrer Kammer sitzt, buchstäblich mit ihrem Herzblut schreibt und dabei ein Monster erschafft. Eine Weiterentwicklung des Golem-Stoffs, nur dass das Monster, das sie geschaffen hat, unter der Lehmoberfläche von heißen Flammen beseelt ist. Und es zieht durch die Stadt und gefährdet ihre Freunde. Eva von Kalm erzählt von ungleichen Freundschaften, dunklen Bedrohungen, Menschen und Monstern und immer wieder vom Schreibprozess und der Fähigkeit, Wörter aufs Papier zu bannen. Sie versteht durchaus etwas vom Schreiben, die Geschichten sind gut gelungen, die Stimmung gekonnt aufgebaut und durchgehalten. Was ich nicht so sehr mag, ist, wenn ein Autor ständig seinen eigenen Schreibprozess zum Thema macht. Aber das ist natürlich eine reine Geschmackssache.
Monster wider Willen: Die Storys zum Marburg Award 2021
Eine Sammlung mit 20 phantastischen Kurzgeschichten der unterschiedlichsten Genres, es sind Beiträge zum Marburg-Award. Da der Marburg-Com 2021 nur virtuell stattfand, hatte ich doch glatt verpasst, mir das Exemplar zu besorgen, aber beim BuCon habe ich es den Marburgern dann doch noch abkaufen können. Es geht um Monster unterschiedlichster Art, die eines gemeinsam haben: Sie haben sich ihren derzeitigen Zustand nicht selbst ausgesucht. Der Leser trifft auf mythologische Figuren und Sagengestalten, aber auch auf Geschöpfe, deren Existenz die moderne Wissenschaft zu verantworten hat. Sehr schön gestaltete Sammlung, die sich gut lesen lässt, mit größtenteils guten Geschichten.
Charlotte Kerner (Hrsg.): Sternenflug und Sonnenfeuer
Das Buch enthält die Lebensgeschichten dreier berühmter Astronominnen. Ich habe es mir angeschafft wegen des Beitrags über Caroline Herschel (1750 - 1848) mit deren Bruder ich mich ja im April näher befasst hatte. Die Geschichte der "Kometenjägerin" ist sehr spannend, vor allem auch die Zeit nach dem Tod ihres Bruders, als sie nach Hannover zurückkehrte, ihre Veröffentlichungen, ihre Musik. Ihre Memoiren möchte ich unbedingt mal lesen.
Völlig neu war mir die Astronomin Maria Kunitz (1604 bis 1664). Sternenkunde in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, also unter erschwerten Bedingungen. 1650 veröffentlichte die Astronomin ihr Buch "Urania proposita", was soviel heißt wie "die zugängliche oder entgegenkommende Muse der Himmelsbeobachtung". Das zweisprachig verfasste Buch (Latein und Deutsch) wandte sich nicht nur an Fachwissenschaftler, sondern auch an Laien. Das Buch fand große Verbreitung in ganz Europa, wurde eine Art Standardwerk und gltl als erste wissenschaftliche Veröffentlichung einer Frau. Sie vereinfachte Keplers teilweise recht komplizierte Berechnungen und beseitigte Fehler in den Rudolfinischen Tafeln, arbeitete auch an der Verbesserung der damaligen Teleskope.
Die dritte im Bunde der Astronominnen ist Maria Mitchel (1818 - 1889), eine moderne Wissenschaftlerin, die einen Lehrstuhl für Astronomie erwarb - in einer Zeit, in der Frauen auf Universitäten eigentlich gar nicht erwünscht waren und erst rechte keine Chancen auf eine Universitätskarriere hatten. Legendär war ihr Aufbruch in den damals noch richtig wilden Westen, um in der Nähe von Denver/Colorado eine Sonnenfinsternis zu beobachten. Die Quäkerin aus Nantucket, die schon als Kind zusammen mit ihrem Vater die Chronometer der Walfangschiffe geeicht hat, ist schon mit 17 Jahren selbstbewusst genug, um eine eigene Schule zu gründen, Und als sie einen neuen Kometen als erste sichtet, meldet sie ihren Anspruch an und kämpft um ihr Recht als Entdeckerin: Die Goldmedaille, die sie zwei Jahre später nach langem Briefwechsel vom dänischen König erhält, geht erstmals nach Amerika und erstmals an eine Frau - und wird auch letztmals verliehen.
Alles drei sind faszinierende Biographien, die die Geschichten ungewöhnlicher Frauen und großer Forscherinnen schildern. Alle drei wurden schließlich von ihren männlichen Kollegen als gleichberechtigte und hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen anerkannt. Und auch das verbindet sie: Alle drei hatten ein familiäres Umfeld, in dem sie Unterstützung von vernünftigen Männern fanden, hatten astronomisch interessierte Väter, Männer, Brüder, Förderer in der Familie, die ihnen eine Ausbildung und Unterstützung verschafften. Es hat immer auch vernünftige Männer gegeben.
Anna Müller-Tannewitz: Tochter der Prärie
Jugendbuch aus dem Jahr 1970 von einer der Klassikerinnen der Indianerliteratur. Erzählt wird de Geschichte eines Pani-Mädchens namens Ikata, das von den Sioux entführt wird und schließlich nach vielen Abenteuern zu ihrer Familie zurückkehrt. Sehr nett und spannend geschrieben. Das erste Buch, das ich gelesen habe, das über einen Protagonisten vom Volk der Pani berichtet. Sonst waren diese Leute ja immer die Bösen ...
John Locke: Brief über die Toleranz (Reclam)
Lesenswerte Streitschrift zum Thema Toleranz, die die Grenzen zwischen Staat und Kirche absteckt. Es geht laut Locke gar nicht an, dass das Staat beziehungsweise der Herrscher dem Bürger vorschreibt, welcher Religion er anzugehören hat, vielmehr soll gewährleistet sein, dass die Religionsfreiheit der Bürger geschützt wird, sofern sie keinen Schaden anrichten und die Religionen anderer tolerieren. Ähnlich wie Aristoteles definiert Locke als Ziel des Staates, das Wohl der Bürger zu erhalten und zu fördern. Da aber kein Mensch wissen könne, welcher Glaube der richtige sei, könne der Staat keine Religion vorschreiben, sondern nur Gesetze zur Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit und des Besitzes etc. erlassen. Stellenweise hat es gewisse Parallelen zur Ring-Parabel aus Lessings "Nathan". "Die Entscheidung in dieser Frage liegt einzig und allein beim oberen Richter aller Menschen, dem es auch obliegt, den Irrenden zu bestrafen. Bis dahin sollen die Menschen überlegen, um wie viel schwerer diejenigen dadurch sündigen, dass sie, wenn auch nicht ihrem Irrtum, so wenigstens ihrem Hochmut Ungerechtigkeit hinzufügen, wenn sie die Diener eines fremden Herrn, die ihnen nicht untertan sind, so ohne jeden Grund unverschämt quälen." Das hört sich bekannt an, nicht?
Interessant ist es auch, wenn man diesen "Brief über die Toleranz" mit Mendelssohns "Jerusalem" im Hinterkopf liest. Denn anders als der deutsch-jüdische Aufklärer, der den religiösen Gemeinschaften das Bann- und Ausschlussrecht strikt untersagt, sagt Locke ganz klar, dass das Recht der Exkommunikation den Kirchen erhalten werden muss. Mendelssohns Argument: Keinem Menschen darf der Trost und die Hilfe für die Seele verwehrt werden, die die Kirche/Synagoge allein zu bieten vermag. Locke: Wer pöbelt, fliegt raus. Denn Locke macht klar, dass eine Exkommunikation den Betreffenden nicht an Leib und Leben schädigt - deren Sicherheit ja staatliche Rechte garantieren müssen.
Ansonsten gibt es Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und ein Nachwort zur Einordnung des Textes. Man hat also eine recht gute Rundum-Versorgung mit dieser Ausgabe.
Markus K. Korb: Die Saat des Hasses
Der erste Roman von Markus K. Korb, der als Autor von Horror-Kurzgeschichten ja schon als Klassiker gelten kann. Wobei dieser Roman sich durchaus in einzelne Handlungsepisoden zerlegen lässt und so trotzdem noch als der kurzen Form zugehörig gelten kann. Erzählt wird in mehrere Stationen die Geschichte eines schier unbesiegbaren Monsters beziehungsweise zunächst einmal: eines superstarken Wesens, das sich zu einer unaufhaltbaren, zerstörerischen Macht entwickelt und eine Bedrohung für die gesamte Menschheit werden kann.
Der Held des Romans bzw. der Protagonist der Rahmenhandlung ist ein gewisser Akoni, dem sein Vater auf dem Sterbebett den Schlüssel zu einem Schweizer Bankschließfach übergibt. Akoni findet darin eine Tasche mit alten Dokumenten, Berichten, Tagebuchaufzeichnungen. Zunächst glaubt er, dass es sich um schriftstellerische Versuche seines Vaters handelt. Doch die beiliegenden offiziellen Dokumente überzeugen ihn, dass die einzelnen Geschichten offenbar tatsächlich echte Erlebnisberichte sind.
Schauplätze sind unter anderem ein Opernhaus mitten im Urwald, das ein gewisser Fitzcarraldo erbauen ließ und in dem eine verrückte Operndiva und einige Schrumpfkopfjäger den Ich-Erzähler und seine Expeditionskollegen beschäftigen, außerdem eine Pazifik-Insel im Zweiten Weltkrieg, auf der amerikanische Soldaten ein abgestürztes Flugzeug der Nazis finden, das KZ Dachau, aber auch die Schweiz der Gegenwart, die Stadt Genf, wo AKoni nicht nur die Bank, sondern auch "Kultstätten" wie die Villa Deodati besucht. Nach und nach wird die Saat des Bösen erkennbarer. Und Akoni beschließt, den Kampf dagegen aufzunehmen.
Eine sehr detailreich und spannend geschriebene Geschichte, die durch die optische Gestaltung und die unterschiedlichen Fotos und Protokolle einen besonderen Reiz hat. Hat mir gefallen. Eine gewisse Brutalität und einen hohen Ekelfaktor muss der Leser allerdings aushalten. Und das Ende ist mir persönlich etwas zu pathetisch geraten. Wie will Akoni denn nun den Kampf gegen die Bestien gewinnen, die selbst von schwer bewaffneten US- und NS-Truppen nicht gestoppt werden konnten?
Michael Ende: Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch
Ein Buch, das ich schon seit rund 30 Jahren auf der To-do-Liste habe, jetzt hat es mir meine Schwester geliehen. Es geht um einen bösen Zauberer, Beelzebub Irrwitzer, der sein Soll an Bosheit und Zerstörung noch nicht erfüllt hat. Der höllische Vollstreckungsbeamte steht schon vor der Tür, denn in der Silvesternacht, beim letzten Glockenschlag läuft die Frist aus, und dann will er den Zauberer abholen und zur Rechenschaft ziehen. Die letzte Chance des Schwarzmagiers: Er will einen Zaubertrank brauen, eben den santarchäolügienialkohöllischen Wunschpunsch, der alle bösen Wünsche erfüllen kann. Die Zeit drängt, Mitternacht ist nicht mehr weit, doch gibt es Komplikationen: Irrwitzers Tante, die Geldhexe Tyrannja Vamperl will den Trunk ebenfalls brauen und ist auf die Zutaten scharf. Als die beiden Bösewichte sich schließlich zusammentun und das Teufelsgebräu gemeinsam zur Vernichtung der Menschheit, der Umwelt und alles Guten einsetzen wollen, stehen nur ein Kater und ein Rabe zwischen dem Trunk und der Katastrophe. Eine verzweifelte Rettungsaktion beginnt ...
Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers
Eine Aufsatzsammlung, die die Homerbegeisterung verschiedener Klassiker und ihre Auseinandersetzung mit dem Verfasser der Ilias und Odyssee schildert und unter anderem nachzeichnet, wie sie mit der "Homerischen Frage" umgegangen waren. Damals, als Friedrich August Wolf die These aufstellte "Homer gab es nicht" und darlegte, Ilias und Odyssee seien aus einzeln im Volk lebenden, mündlich überlieferten Liedern ("Volksliedern") irgendwann zusammengestellt worden, lautete die Gretchenfrage bei jeder Diskussion um den Griechen: "Wie hältst du es mit Wolf?"
Ich hatte mir das Buch Anfang der 90er angeschafft wegen eines darin enthaltenen Kapitels über Wilhelm von Humboldt, hatte auch ein paar der anderen Aufsätze gelesen, aber längst nicht alle. Nun nutzte ich den Urlaub zu einer Komplett-Lesung. Der Humboldt-Aufsatz arbeitet heraus, dass Humboldt schon irgendwie einsah, dass unsere Heroisierung der Griechen und des Altertums natürlich etwas überzogen war und dass die Leute damals nicht so edel, hilfreich und gut waren und nur ständig kulturell Hochwertiges abgesondert haben, dass vieles, was wir aus den uns überlieferten Fragmenten herauslesen, eben eine Täuschung sei, aber, wie Humboldt es sehr klug formulierte: "Eine notwendige Täuschung".
Sehr spannend fand ich auch bei der Zweitlektüre den Aufsatz über Goethe. Der Mann hat offenbar sehr gezielt an die Wolfsche These geglaubt, solange er selbst an seinem großen Epos "Hermann und Dorothea" schrieb. Anders hätte ihn das große Vorbild Homer gelähmt. Aber mit einem nicht-existenten Homer kann man ja als Ependichter getrost in die Schranken treten. Als "Hermann und Dorothea" fertig war, nahm Goethe seinen Homer wieder vor, guckte rein und stellte fest: Alles Quatsch, kein Kompilator von anonymen Volksliedern hätte so ein großes, stimmiges Werk der Weltliteratur schaffen können. Als Goethe seinen Zweifel an Homer nicht mehr brauchte, um etwaige Minderwertigkeitskomplexe loszuwerden, hat er getrost Wolf zu den Akten gelegt und wieder an den Gottvater der Dichter geglaubt.
Spannend fand ich auch, dass Karl Marx sich durchaus von Homer inspirieren lassen hat. Und auch die Kapitel über Winckelmann und Schliemann waren hochinteressant. Insgesamt eine spannende Sammlung. Nur seltsam, dass ausgerechnet Schiller, der ja den Titel lieferte, keine Kapitels gewürdigt wird.
Nadine Muriel und Rainer Wüst (Hrsg.): Das geheime Sanatorium
Eine Anthologie mit Geschichten über allerlei Fabelwesen, Märchenfiguren und mythische Gestalten, die in einem geheimen Sanatorium Heilung von psychischen Problemen und Krankeiten suchen. Untote, die mit dem Untotsein nicht klar kommen, Werwölfe mit Blutphobie, Feen mit Burnout, ja sogar der Tod, der sich überarbeitet hat, ist als Patient im Sanatorium zugegen.
Die Geschichten kommen daher als Episoden einer Reality-Soap über eben diese Heilanstalt. Drei Hexen in einer WG haben sich verabredet zur gemütlichen "Sanatoriumsnacht" vor dem Fernseher und machen eine Mädels-Party daraus. Teilweise kommentieren sie die Episoden, nehmen am einem den Abend begleitenden Buchstabenrätsel teil und sind allesamt verliebt in einen der Darsteller. Die Geschichten sind dadurch und durch das konstante Sanatoriums-Personal sehr eng miteinander verzahnt und verwoben. Einzig die Patienten, die jeweils im Mittelpunkt stehen, wechseln.
Enthalten sind 13 Geschichten von zehn Autoren, zum Teil spannend, zum Teil lustig, wobei aber, wie das Nachwort der Herausgeberin Nadine Muriel betont, großer Wert darauf gelegt wurde, die psychischen Probleme ernsthaft zu beschreiben und nicht lächerlich zu machen. In ihrem Schlusswort geht sie den soziologischen und psychologischen Aspekten des Andersseins nach und betont, dass abweichendes Verhalten eine Frage der Definition ist - wer wofür stigmatisiert wird, entscheidet die Gesellschaft. Insofern war es den Machern dieser Sammlung wichtig, diverse Schrullen, Macken, Störungen oder was auch immer mit Respekt zu behandeln. Ein sehr ernsthaftes Schlusswort für seine Sammlung aus dem recht freien Bereich der Phantastik.
Insgesamt ist es eine sehr dichte Anthologie ohne Brüche und Qualitätssprünge geworden, erzählerische Ausfälle und schlechte Geschichten gab es nicht. Bleibt zu hoffen, dass das Hexen-Trio nun seine Helden wirklich trifft und nicht enttäuscht wird.
Nanata Mawatani: Wo der Adler fliegt
Ein antiquarisches Fundstück, 1980 erschienen. Nadja, die Heldin dieses Buchs, ist eine Nachfahrin von Weißer Vogel, die in Nanata Mawatanis Büchern "Schwarzes Pferd und Weißer Vogel" und "Weißer Vogel und Kleiner Bär" die Hauptrolle spielte. Nadja hat eigentlich keine Beziehung zu ihren Cheyenne-Vorfahren. Sie wurde in Dänemark geboren, ihr Vater war Deutscher. Doch irgendwie erreichte sie dort eine Art Ruf des Medizinmanns. Sie weiß selbst nicht so recht, was sie in die Gegend des Cheyenne-Reservats trieb, doch als sie unterwegs einen Gewehrschuss abbekommt, ist sie bereits mittendrin in einer gefährlichen Auseinandersetzung um das Land, das den Cheyenne noch verblieb. Nun soll sie als Nachkommin von Weißer Vogel die Hoffnung der Cheyenne verkörpern.
Die Zeit der Indianerkriege und des wilden Westens ist längst vorbei. Aber die Bandagen, mit denen die Coal-Company um den Besitz des Indianerlandes kämpft, sind genau so hart wie damals, das Vorgehen nicht weniger brutal. Und die staatliche Gewalt steht natürlich auf den Seiten der Weißen. Doch auch Nadja und ihre Mitstreiter kämpfen mit modernen Methoden: Sie dringen ins Studio eines Fernsehsenders ein und verbreiten ihre Botschaft über die Massenmedien. Sie schmieden ein Bündnis mit anderen Indianerstämmen über das gesamte US-Gebiet hinweg. Und sie engagieren einen tüchtigen Rechtsanwalt.
Außerdem werden zahlreiche Probleme der Reservationsindianer angesprochen: Alkohol, Perspektivlosigkeit, Rechtlosigkeit, Armut, eine hohe Selbstmordrate. Es wäre Stoff für ein doppelt so dickes Buch gewesen.
Verlockung des Bösen: Die Storys zum Marburg Award 2022
Anthologie mit 28 Beträgen zu dem Schreibwettbewerb. Es sind sehr schöne Geschichten aus allen Spielarten der Phantastik dabei. Außer Prosatexten sind auch ungewöhnliche Formen wie Dramolette enthalten. Und die Ausgabe wurde vom Marburger Verein für Phantastik erneut sehr schön gestaltet und mit Illustrationen versehen.
Virginia Woolf: Orlando
Geschichte eines Mannes, später einer Frau, der/die beinahe vier Jahrhunderte lang lebte und die Veränderungen der britischen Gesellschaft erlebte. Der junge Orlando gewinnt die Zuneigung von Elizabeth I., die ältere und weibliche Version dieses Menschen "stirbt beim zwölfte[n] Schlag der Mitternacht am Donnerstag, dem elften Oktober des Jahres neunzehnhundertachtundzwanzig." Verwirrt? Aber so steht es geschrieben.
Die Geschichte hat etwas von einem Bildungsroman aus dem 19. Jahrhundert. Orlando ist zunächst ein junger Mann von außergewöhnlicher Anmut, der bei Hofe auch schnell Karriere macht. Allerdings ist dann auch eine ziemlich nervige Frau hinter ihm her. Mein absoluter Lieblingssatz in dem Buch: "Er tat, was jeder junge Mann in seiner Situation tun würde: Er bat den König, ihn als Außerordentlichen Gesandten nach Konstantinopel zu schicken."
Orlando macht seine diplomatische Sache wohl gar nicht schlecht. Allerdings wacht er nach dem ersten Drittel des Buchs plötzlich auf und ist eine Frau. Erklärt wird das nicht weiter. Ebensowenig wie die Langlebigkeit des Protagonisten bzw. der Protagonistin. Es scheint sich absolut keiner darüber zu wundern. Nur dass Orlando mit diesem Geschlecht kein Gesandter mehr sein kann, ist allen offenbar klar. Orlando entdeckt ihre Weiblichkeit, genießt sie geradezu. Sie hat allerdings einige Probleme, ihren Besitz behalten zu dürfen. Der rechtliche Status von Frauen in dieser Zeit war absolut unterirdisch.
Das Ganze ist, wenn man sich erstmal eingelesen und den unbegründeten Geschlechtswechsel akzeptiert hat, sehr angenehm zu lesen, es ist ein äußerst humorvolles Buch, das die Geschlechterrollen mit einer gewissen Leichtigkeit und feiner Ironie ausbalanciert und mit Klischees jongliert. Meine zweitliebste Stelle ist die Situation, als Orlando einem zudringlichen Liebhaber einen Frosch in den Nacken setzt. Und auch ihre Auseinandersetzungen mit Literatur und Schriftstellern sind sehr liebenswert. Alles in allem ein lesenswerter Roman, ich habe mich nicht gelangweilt.
Das Wunschbüro der Lilith Faramay
Fabienne Siegmund: Der Wolkenphönix
Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte und eine phantastische Reise. Adrian hat seine Geliebte verloren, eine Frau, die nicht von dieser Welt war, einen Wolkenphönix, verloren durch den Tod. Aber er hat die Hoffnung, die Verlorene wiederzufinden. Er folgt der Spur aus Murmeln und findet Unterstützung im sonderbaren Geschäft der Madame Mireia Mabel.
Eine traurigschöne Erzählung im unverwechselbaren Stil von Fabienne Siegmund. Eine Reise mit phantastischen Stationen und ungewöhnlichen Begegnungen, Gedanken über Liebe und Tod, den Fleiß von Bienen und eine Melodie, die noch lange nachklingt. Und Fabienne Siegmund wäre nicht Fabienne Siegmund, wenn sie die Zauberreise einfach mit einem platten Happy End entwerten würde ...
Judith und Christian Vogt: Schildmaid
Wow! Als mir ein Autorenkollege das Buch, über das er eine Rezension geschrieben hatte, schenkte, dachte ich noch: Naja, Großverlag, das wird irgendwelche Massenware und Fantasy von der Stange sein. Ich musste mich eines Besseren belehren lassen. Und ich habe mich gern belehren lassen.
"Schildmaid" ist ein Roman, der es wagt, literarisch anspruchsvoll zu sein und Ansprüche an den Leser zu stellen, auch und gerade im Fantasy-Genre. Sprachlich widerständig, mit rauem, an alte Sagas erinnerndem Satzbau, herb und doch manchmal lyrisch und mit betont skandinavischer Wortwahl bis hin zur Verwendung von Buchstaben wie Æ oder Ø wehrt sich das Buch gegen allzu flüchtige Überflieger und gibt dem Leser durchaus einige Arbeit auf, die aber reich belohnt wird.
Judith und Christian Vogt erzählen die Geschicke des Drachenboots Skjaldmær, eines Schiffs mit besonderer Geschichte und ungewöhnlicher "Mann"schaft. Denn diese Schildmaid ist ein Boot der Frauen: von seiner Erschafferin und ihren Helferinnen über ihre Besatzung bis hin zu ihren Göttinnen.
Eyvor, die Witwe eines Bootsbauers, hat eine Vision: Sieben Jahre lang arbeitet sie daran, ein eigenes Drachenboot zu bauen. Die Einzelgängerin wird verlacht und verspottet, bald gibt man ihr den Spottnamen Eyvor Untraum. Doch die Frau träumt ihren unmöglichen Traum weiter, den ihr wohl die Göttin Ran eingegeben hat und von dem sie selbst nicht so recht weiß, worauf seine Erfüllung eigentlich hinauslaufen soll. Und die Kunde von der seltsam anderen Frau zieht weitere Außenseiterinnen an. Skade etwa, die den Speer zu führen weiß wie ein Mann und die ihrem Gatten zusammen mit ihren beiden Kindern entflohen ist, weil der gewalttätige Berserker ihnen Gewalt antun wollte. Oder Tinna, die Skaldin, die die alten Sagas und Götterlieder vortragen kann und die Taten der Frauencrew besingen will, obwohl Frauen doch gar nicht Skalde werden können. Oder Herdis Kraka, die Frau mit der Krähe, eine Schamanin, die aufgrund ihres Potentials genau so gut Berserkerin werden könnte wie ihr Bruder, aber eben als Frau dazu nicht taugt. Jägerinnen, Knotenknüpferinnen, eine Schnitzmeisterin, die einen Drachenkopf anfertigen kann, sie alle stoßen nach und nach zu Eyvor. Die ist sich in ihrer Rolle als Kapitänin gar nicht so sicher. Doch als Skades Mann auftaucht und seine Frau zurückfordert, überstürzen sich die Ereignisse, die Schildmaid legt ab und ist plötzlich auf großer Fahrt.
Die Frauen beweisen sich zunächst als große Plünderer, die genau so gut wie männliche Wikinger irische Klöster überfallen können. Doch bald zeigt sich, dass die Göttin Ran einen besonderen Plan hatte, als sie Eyvor ihren "Untraum" sandte. Sollten die Frauen wirklich dazu ausersehen sein, den Weltuntergang, Ragnarök, aufzuhalten oder abzuwehren? Es ist eine sehr weibliche Utopie, die die Crew der Schildmaid antreibt. Während ihre männlichen Konkurrenten sich kein schöneres und ehrenvolleres Schicksal ausmalen können als den Heldentod auf dem Schlachtfeld und das Eingehen ins Kriegerparadies Walhall, haben diese Frauen den Auftrag, die Welt und das Leben zu erhalten ...
Sonderbar. Erst jetzt fällt mir auf, dass in der germanischen Mythologie von den vier Gottheiten, die für Tod und Jenseits zuständig sind, nur ein einziger männlich ist. Die Ertrunkenen landen bei Ran, der Gattin des Meeresgottes Ägir. Die auf dem Strohbett Gestorbenen fahren zur Hel in die Unterwelt. Und von den auf dem Schlachtfeld Gefallenen gehört nur die Hälfte Odin, die andere Hälfte der Gefallenen zieht in Freyas Saal ein ...
Die beiden Autoren haben es geschafft, zahlreiche sehr unterschiedliche Frauenschicksale und Charaktere auf diesem Schiff zu vereinigen. Sehr gelungen ist die Schilderung der verschiedenen Temperamente und ihr Aufeneinandertreffen. Und die Art, wie gerade Skade als Stärkste und kampfbegierigste immer wieder im entscheidenden Moment schwächelt, ist einfach ganz große Kunst, berührend und tragisch.
Fazit: Ein großartiges Buch, das ich jedem ans Herz legen möchte, der etwas mehr von Büchern erwartet als verzehrfertiges Conveniance-Food. Mein Buch des Jahres 2022.
Dagmar von Gersdorff: Dich zu lieben kann ich nicht verlernen
Biographie der Sophie Mereau, einer Autorin der Romantik, die heutzutage fast völlig vergessen ist. Bekannt ist sie den meisten, wenn überhaupt, noch als Geliebte und spätere Frau von Clemens Brentano. Sophie Mereau wurde zu Lebzeiten besonders gefeiert für ihre Landschaftslyrik, sie war aber auch Roman-Autorin und Übersetzerin. Die abgedruckten Gedichte sind nicht so ganz mein Fall. Ihren Roman "Amanda und Eduard" würde ich gern mal lesen, vielleicht nächstes Jahr. Sehr gut befreundet war sie mit Schiller, und auch mit Achim von Arnim und Bettina Brentano/von Arnim hat sie sich gut verstanden. Die Ehe mit Clemens muss aber die Hölle gewesen sein wegen seiner geradezu krankhaften besitzergreifenden Eifersucht. Sie starb schließlich aufgrund einer Fehlgeburt.
Die Biographie ist sehr interessant, allerdings wird die Verfasserin manchmal etwas schwülstig und pathetisch. Schön ist, dass sehr viele Originaltexte darin zu lesen sind wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen. Wobei die Tagebucheinträge oft so verkürzt sind, dass die Biographin sehr viel zum Hintergrund erläutern muss, damit der Leser die knappen Stichwortlisten überhaupt verstehen kann.
Ida Spix: Die zerbrochenen Flöten. Jadefisch und Motecuzoma
Elke Morlock: Kabbala und Haskala
Ein Buch über eine der schillerndsten Gestalten der jüdischen Aufklärung. Isaak Satanow war ein Gelehrter, der aus dem Ort Satanow in Podolien in der heutigen Ukraine stammte, dort die klassische jüdische Bildung erwarb, Tora und Talmud, aber auch die Kabbala lernte, dann aber nach Berlin kam und zum Kreis der jüdischen Aufklärer in der Nachfolge Moses Mendelssohns stieß. Satanow war Schriftsteller und Philosoph und hatte für die Haskala die besondere Bedeutung, dass er der erste Direktor der Orientalischen Buchdruckerei war, eines Meilensteins in der jüdischen Aufklärung. Denn die Möglichkeit, eigene Bücher drucken und verbreiten zu lassen, konnte für die sich emanzipierenden Juden in Preußen gar nicht hoch genug geschätzt werden.
Satanow war allerdings nicht nur Geisteswissenschaftler, sondern verstand auch viel von Physik, vor allem von der Optik, und konnte meisterhaft altes jüdisches Wissen mit moderner Forschung verbinden, etwa indem er über die Theorie des Diamantenschleifens schrieb und sich zwischen Newton und dem Sefirotbaum der Kabbala geschickt hin und her bewegte.
Der Bezug zur Kabbala, die Herkunft aus dem Osten, vor allem aber die Art, wie er eigene Texte manchmal als vermeintliche neu aufgefundene und von ihm nur übersetzte Manuskripte großer Wissenschaftler der Vergangenheit ausgab, waren dafür verantwortlich, dass Satanow von vielen als ein eher zwielichtiger Charakter betrachtet wurde. Hochgebildet und ein kluger und geschickter Schriftsteller war er aber auf jeden Fall.
Nikolai von Michalewsky: Keine Spuren im Sand
Eine Zeitung will eine Supergeschichte haben und engagiert eine Truppe ehemaliger Fremdenlegionäre, um eine im Tschad von Rebellen verschleppte Französin zu befreien. Die Befreiung gelingt zunächst, doch auf der Flucht läuft einiges schief. Befreier und Terroristen liefern sich eine tödliche Verfolgungsjagd, auf beiden Seiten ist der Blutzoll hoch, auch Bewohner eines kleinen Dorfes in der Wüste werden mit in die Auseinandersetzung hineingezogen. Am Ende sind sowohl der begleitende Journalist als auch der Fotograf tot, die komplette Befreiertruppe ist niedergemetzelt bis auf den jüngsten im Team und die Französin. War die Freiheit der Geisel, für die man auch ein Lösegeld hätte zahlen können, wirklich diese Menge an Leichen wert? Die Zeitung jedenfalls zahlt ein hohes Schweigegeld. Sie wird nicht über ihre eigene Aktion berichten.
Der Autor Nikolai von Michalewsky ist wirklich ein Phänomen. Immer wieder schreibt er Bücher, die tragisch enden. Die Helden sind am Ende tot oder schwer in ihrer Seele und ihrem Selbstwertgefühl beschädigt. Haben alles gegeben für ein Ziel, das sich am Ende als sinnlos erwies. Oder eben alles verloren. Und der Autor konnte trotzdem davon leben, er konnte seine Bücher trotzdem verkaufen. Der Zwang zum Happy End scheint ein Mythos ...
Jostein Gaarder: 2084. Noras Welt
Nora, ein Kind unserer Zeit, steht kurz vor ihrem 16. Geburtstag und macht sich darüber Gedanken, wie die Welt im Jahr 2084 aussehen wird. In mehreren Träumen begegnet sie ihrer Urenkelin Nova. Nora ist klar, dass sie jetzt und heute handeln muss, wenn sie Nova ein Leben in einer halbwegs bewohnbaren Welt ermöglichen will. Doch was soll sie tun? Zusammen mit ihrem Freund Jonas entwickelt sie eine Idee, wie man die Menschen dazu bringen kann, sich mehr für die Umwelt zu engagieren. Es soll an den Spieltrieb der Menschen appellieren. Wer Tiger liebt, soll in der Tiger-Lotterie spielen und mit seinem Geldeinsatz Schutzgebiete für den Tiger finanzieren. Wer Blattläuse liebt, dem steht die Blattlaus-Lotterie zur Verfügung. Da aber alles miteinander verbunden ist, wird durch einen Schutz der Tiger-Lebensräume automatisch auch der Lebensraum anderer Tierarten mit geschützt, und am Ende profitiert auch die Blattlaus.
Eine interessante Idee, vielleicht noch nicht ganz ausgereift, aber ein Ansatz, über den man nachdenken kann. Auch wenn Nora noch ein ganz anderes vielversprechendes Eisen im Feuer hat, um die Welt zu fretten: ein magisches Familiengeheimnis ...
Benjamin Myers: Offene See
England, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Der junge Robert, der aus einer Bergarbeiterfamilie stammt, soll nach der Schule ebenfalls einen Job im Bergbau annehmen. Doch zuvor will er noch das Meer sehen. Er begibt sich auf die Wanderschaft, nimmt ab und zu Arbeiten als Tagelöhner an, um sich zu ernähren, und findet schließlich ein einsames Haus, in dem eine exzentrische ältere Dame lebt. Die beiden freunden sich an, er übernimmt Arbeiten im Garten und repariert das baufällige Gartenhaus, sie öffnet ihm dafür die Welt der Kunst, Kultur und Literatur. Als er im Gartenhaus das Manuskript eines Lyrikbandes findet, ist er tief berührt, doch sie weigert sich lange Zeit, es zu lesen. Es sind die Verse ihrer besten Freundin, deren Tod sie nie verwinden konnte. Dann, endlich, entdecken sie die Gedichte der Verstorbenen gemeinsam ...
Klingt so in der Beschreibung ganz nett, ist aber insgesamt ein eher nichtssagendes Buch. Gewollt tiefsinnig, aber es hat keine Tiefe. Vollkommen verzichtbar. Das zweit-unbefriedigendste Buch des Jahres.
Katja Etzkorn: Tlingit Moon
Ju Honisch: Schwingen aus Stein
In der Geheimgesellschaft Aroria sind drei wertvolle magische Bücher verschwunden. Ein Bruder und ein Schüler werden ausgesandt, um die Schriften wieder zu finden. Allerdings gibt es so gut wie keine Anhaltspunkte.
Gleichzeitig ist eine junge Gouvernante mit ihrer Schülerin auf der Flucht. Das Mädchen ist Waise und hat manchmal seltsame Anfälle. Eine kirchliche Organisation, die Bruderschaft des Lichts, will das Mädchen in ihre Gewalt bringen, denn sie wittern in dem Kind etwas "Böses". Was sie mit der Kleinen vorhaben, ist jedenfalls nichts Gutes. Die Frau und das Mädchen geraten in höchste Gefahr. Doch ein geheimnisvoller Vogelmann hilft ihnen. Zu einem Preis, den die Gouvernante zunächst noch gar nicht einschätzen kann. Und dann ist da auch noch ein sympathischer junger Mann, der die beiden beschützen will. Nur, dass der Mann nicht ganz harmlos ist, er hat etwas Wolfsartiges an sich.
Die Geschichte ist superspannend, sprachlich sehr schön, lässt sich gut lesen, hat Tiefgang und Humor gleichermaßen und hat mir sehr gut gefallen.
Einen halben Punkt Abzug gebe ich für den preußischen Bösewicht. Dessen Schurkerei ist mir ein wenig zu dünn motiviert. Nur wegen seiner Geilheit einen solchen Aufriss zu machen und sich mit Kräften anzulegen, die denen eines gewöhnlichen Sterblichen weit überlegen sind, scheint mir doch ein wenig zu hirnlos, um ein erfolgreicher Schurke zu sein.
Friedrich Nikolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (Reclam)
Satirischer Roman aus der Zeit der Spätaufklärung, verfasst von einem der wichtigsten Berliner Aufklärer und Verleger, einem guten Freund von Lessing und Mendelssohn zudem. Der Untertitel spielt natürlich auf Tristram Shandy an, und dem guten Sebaldus Nothanker wird ähnlich übel mitgespielt wie dem Helden Sternes, nur dass Nikolai nicht zum Abschweifen neigt und eher nüchtern, knapp und unsentimental erzählt.
Der Roman setzt betont lange nach dem Punkt an, an dem andere Romane enden. Es geht nicht um die Hochzeit des Helden als Schlusspunkt. Sebaldus Nothanker ist Dorfgeistlicher, schon lange verheiratet und inzwischen dreifacher Vater. Er ist ein liebevoller und fürsorglicher Hirte seiner Gemeinde, hat allerdings zwei theologische Schwächen: Zum einen liebt er die Apokalypse, über die er eine wissenschaftliche Abhandlung verfasst, zum anderen ist er der Überzeugung, dass aufgrund der grenzenlosen Güte Gottes die ewige Verdammnis nicht ewig sein kann, sondern dass Gott irgendwann auch den schlimmsten Sünder begnadigen wird. Vor allem letzteres bringt ihn im Verlauf des Romans immer wieder in Konflikt mit seinen Vorgesetzten.
Nothanker ist gut etabliert in seiner Gemeinde und alles scheint sicher und in Ordnung, als seine Frau in einem Buch etwas über die Großartigkeit des Heldentods für das Vaterland liest. Sie liegt ihm so lange in den Ohren, er möge doch eine Predigt über dieses Thema halten, bis er sich irgendwann dazu durchringt und in der Kirche ein Loblied auf den Tod fürs Vaterland singt. Mit der Folge, dass sich zehn Landeskinder sofort zu einem Werber begeben und in die Armee eintreten. Zehn Landeskinder, die Nothankers Provinzfürst als Untertanen und Arbeitskräfte verloren hat. Sebaldus wird von seinen Kirchenoberen zur Rechenschaft gezogen, kommt in seiner Rechtfertigung fatalerweise auf die unendliche Güte Gottes zu sprechen und offenbart dadurch eine eklatant von der Protestantischen Lehrmeinung abweichende Ansicht. Widerrufen will er nicht, also verliert er seine Pfarrstelle. Sein Nachfolger wirft ihn und seine Familie erbarmungslos aus dem Pfarrhaus raus. Woraufhin Sebaldus' Frau und das neugeborene Kind schwer erkranken und schnell sterben.
Sedbaldus' Sohn geht unter falschem Namen zu den Soldaten, seine Tochter soll als Französischlehrerin und Kinderbetreuerin zu einer reichen Familie geschickt werden. Ein Freund der Familie - der Buchhändler und Verleger, der Sebaldus' Frau mit der fatalen Schrift über den Heldentod verkauft hat - vermittelt ihr die Stelle und rät ihr, sich als Französin auszugeben und ebenfalls einen neuen Namen anzunehmen. Nothanker bekommt zunächst einen Job in einer Druckerei als Korrektor.
Die nun folgende Geschichte lässt Nothanker immer wieder über seine Vorstellungen über Gottes Güte stolpern. Jedesmal, wenn er eine halbwegs ordentliche Stelle bekommen hat, gerät er mit der Geistlichkeit aneinander, die nach einer Prüfung seiner Ansichten für seine Entlassung sorgt. Doch er findet auch Unterstützer. Neben dem Buchhändler setzt sich vor allem ein Major für Sebaldus ein, der ihm sehr dankbar ist, da er durch ihn zehn Soldaten gewonnen hat. EIn treuer und redlicher Mensch, einfachen Gemüts und voller geradliniger Soldatentugend, der sich schließlich sogar für Nothanker duelliert - mit tödlichem Ausgang ...
Auch für Sebaldus' Tochter geht es auf und ab. Sie ist sehr schön, weckt Begehrlichkeiten bei Männern, die mit dem Titel Arschloch noch zu gut bedient sind, wird entführt, gerät mit ihren Arbeitgebern wegen deren Selbstsucht und Arroganz aneinander, verliebt sich, wird jedoch von ihrem Geliebten getrennt, und das nicht nur durch Standesunterschiede. Erst nach langen Irrungen und Wirrungen findet die Familie wieder zusammen. Und Nikolai kann es sich nicht verkneifen, seinen Helden auch noch in der Lotterie gewinnen zu lassen ...
Das Buch ist trotz seines Alters - es erschien in den Jahren 1773 bis 1776 - ausgesprochen flüssig lesen und ist ein echter Pageturner. Hat mir sehr viel Spaß gemacht. Auch wenn man praktisch auf jeder Seite rufen möchte: "Tu's nicht, Sebaldus!" Sehr schön.
Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst erzählt
Eine der ersten jüdischen Autobiographien in deutscher Sprache, wie der Klappentext hervorhebt. Damals wurde das Buch von Karl Philipp Moritz herausgegeben.
Salomon Maimon war neben Isaak Satanow die zweite große schillernde Persönlichkeit im Kreise der Haskala-Gelehrten. Mit Satanow hat er auch durch seine Herkunft aus dem Osten und durch seine Kenntnisse der Kabbala einige Gemeinsamkeiten. Salomon Maimon war klassischer Talmudgelehrter. Seinen Nachnamen wählte er nach dem berühmten Moses Ben Maimon / Maimonides, Verfasser des "Führers der Unschlüssigen".
Die Lebensgeschichte dieses Gelehrten liest sich wie ein Roman der Aufklärung oder Klassik. Sie ist reich an Standardsituationen des Romans aus dem 18. Jahrhundert, und wer nicht weiß, dass es eine Autobiographie ist, könnte es glatt für ein literarisches Werk halten. Wer zeitgleich den "Sebaldus Nothanker" liest, wie ich es getan habe, kommt aus dem Wiedererkennen und Staunen kaum heraus. Da ist die Geschichte vom jungen Mann, der sich Bücher verschaffen will. Der autodidaktisch Deutsch lernt, der von Wissensdurst angetrieben wird. Da ist seine Entführung, als eine Frau ihn unbedingt mit ihrer Tochter verheiraten will. Da sind der Hunger und die Armut, und vor allem auch die Begegnung mit Heuchlern und herrschsüchtigen Obrigkeiten in der eigenen Religionsgemeinschaft, die Abweichler streng bestrafen. Nur dass Maimon, anders als Nothanker, nicht das stille Opfer ist, er fetzt manchmal bissig und sarkastisch zurück.
Legendär ist seine Diskussion mit dem Hamburger Oberrabbiner, bei der letzterer immer unwilliger wurde und schließlich auf einen "Schoffer" (Schofar) deutet, der auf dem Tisch liegt. Das Horn, "worin als Ermahnung zur Buße am Neujahrsfest in der Synagoge geblasen wird und vor dem sich der Teufel ganz abscheulich fürchten soll". Der Oberrabbiner fragt drohend, ob er wisse, was das sei. Darauf Maimon lakonisch: "O ja! Es ist das Horn von einem Bock."
Dass Maimon ein scharfer und präziser Denker war, musste sogar Kant anerkennen. Dessen "Kritik der reinen Vernunft" hatte Maimon nämlich analysiert und darin einige Schwachstellen aufgedeckt. Von Kant gibt es einen längeren Brief dazu an Maimon. Er war einer der wenigen, dessen Kritik der Königsberger Philosoph anerkannte ...
Eine unheimlich spannende Biografie, die ich jedem ans Herz legen möchte, der sich mit der jüdischen Aufklärung befasst.
Samuel Pepys: Tagebuch (Reclam)
Samuel Pepys war britischer Beamter, Sekretär im Schatzamt, dann im Flottenamt. Sein Tagebuch führte er in den Jahren 1660 bis 1669, in einer sehr bewegten Zeit. Es ist die Zeit des Krieges mit Holland, der Pest, des großen Brandes von London. Sein Tagebuch ist eines der frühesten Beispiele für private, persönliche Aufzeichnungen und nicht für die durchaus üblichen dienstlichen Notizen über für die entsprechenden Fachbereiche wichtigen Ereignisse. Pepys kommentiert die großen zeitgeschichtlichen Begebenheiten, aber auch Theateraufführungen, seine Gesundheit und seine sexuellen Eskapaden.
Witzig, boshaft und zynisch sind seine Bemerkungen etwa zu einer Romeo-und-Julia-Aufführung: "Das schlechteste Stück, das ich je gesehen habe, dazu schauderhaft gespielt. Habe beschlossen, nie wieder in eine Premiere zu gehen, weil die Schauspieler dauernd ihren Text vergessen." Über seine Teilnahme an Hinrichtungen ist unter anderem zu lesen: "Nach Charing Cross, um zuzuschauen, wie Major Harrison gehängt, ausgedärmt und gevierteilt wurde. Er sah sehr vergnügt dabei aus."
Pepys führt peinlich genau Buch über seine Fürze, seinen Stuhlgang und seinen Kontostand. Und jedes Jahr feiert er gleich einem zweiten Geburtstag den Jahrestag seiner gelungenen Gallenstein-Operation.
Man erfährt viel über den Zustand der Flotte und über die Gesellschaft in London. Darüber, welcher Adlige ihm gewogen ist und wer ihm zulächelt. Darüber, wann er wo welche Frauen angefasst hat und wie er sich mit ihnen vergnügte. Und darüber, wie er kochend vor Eifersucht seine Frau beobachtet und beispielsweise ihren Tanzlehrer entlässt aus Argwohn, sie hätte etwas mit dem Mann am Laufen. Als er vorübergehend seine Schwester bei sich aufnimmt, muss sie am Gesindetisch essen - damit sie gar nicht erst anfängt, sich irgendetwas von ihm zu erhoffen.
Alles in allem ein ziemliches Arschloch. Aber sein Tagebuch ist eine wichtige Quelle für alles, was sich damals in London ereignete. Und es ist einfach verdammt amüsant zu lesen.
Thomas Heidemann: Feuersturm. Das McGreegga-Armageddon
Die Feuersturm-Crew ist wieder da und hat ihren ersten eigenen Roman. Das Raumschiff "Feuersturm", das nach einem Meteoritensturm oder Ähnlichem ein U und ein M aus dem Namenszug am Bug verloren hat, heißt eigentlich laut Schiffspapieren "Fe erstur". Denn es war billiger, den Namen zu ändern, als ein neues Schild malen zu lassen, klar.
Bekannt sind das Raumschiff und seine Mannschaft, eine liebenswürdige und absolut irrsinnige Chaotentruppe, einigen Lesern bereits aus mehreren Kurzgeschichten in den Anthologien des Leseratten-Verlags. Jetzt also die erste eigenständige Veröffentlichung, Und der Autor Thomas Heidemann zieht wahrhaftig alle Register des gehobenen Weltraum-Irrsinns. Die Inspiration durch Douglas Adams kann und will er dabei nicht verleugnen, es wäre aber auch ohne die ausdrückliche Erwähnung im Vorwort kaum übersehen worden. Nur, dass diese Crew noch ein bisschen durchgeschepperter ist als der durchschnittliche Anhalter.
Vizekapitän Armistead Bad Axe McGregga, den nur extrem böswillige Zeitgenossen mit seinem alten uncoolen Namen Shlomo Sorgsam anreden, begreift gar nicht so recht, wie ihm geschieht, als ihm Angehörige einer fremden Zivilisation vom Planeten Mi einen besonderen Ring überreichen. Das seltsame Schmuckstück ist ein mächtiges Artefakt, mit dem man sich in der Zeit zurückbewegen und Ereignisse verändern kann. Ein Hilfsmittel, das McGregga bald bitter nötig hat. Denn nur wenig später jagt er versehentlich seinen Heimatplaneten, die Erde, in die Luft. Was folgt, ist eine schräge Abfolge von Verfolgungsjagden, Stunts, Zeitsprüngen, Schießereien, Sprüchen und Metal-Musik. Und wenn dann noch eine die Kapitänin Sazqua mit ihrer alles erschlagenden Oberweite, ein schwer bewaffnetes Mini-Küken mit lockerem Schnabel und eine fleischfressende Pflanze namens Audrey III mitmischen, ist das Chaos nicht mehr aufzuhalten ...
Ein Heidenspaß für die Fans abgedrehter Science-Fiction-Parodien. Etwas schade ist jedoch, dass die bisher erschienenen Kurzgeschichten aus den Leseratten-Anthologien nicht mit abgedruckt wurden. Für Neueinsteiger sind gewisse "Ostereier", die Heidemann versteckte, nicht zu finden, und das ist traurig. Die Vorgeschichte(n) wären sicher auch für neue Fans interessant, etwa die Motivation der Kapitänin der "Axetöter", deren Ziel im Namens ihres Raumschiffs bereits deutlich ausgedrückt ist. Wobei natürlich auch die Anthologien kaufenswert sind.
Brita Rose-Billert: Der Tanz des Falken
Ich habe vor ein paar Jahren das Buch "Das Geheimnis des Falken" gelesen. "Der Tanz des Falken" ist der erste Teil der Serie, zu der es inzwischen noch mehr Bände gibt.
Erzählt wird die Geschichte eines Lakota-Indianers, der zur US-Armee geht, um dort Geld für die Farm seiner Familie zu verdienen. Ryan Spirit Hawk muss sich gegen einige weiße Mitrekruten durchsetzen, freundet sich mit einem bärenhaften Mechaniker an und wird, da er ein Super-Fahrer ist, bald zum Chauffeur eines Generals. Mit diesem kommt er sehr gut klar. Doch als dessen Dienstzeit endet, gerät er an einen ziemlich miesen Uniformträger, wird obendrein in eine Falle gelockt, bei der der Geheimdienst einen Zeugen verschwinden lassen will, steht plötzlich zu unrecht als Schuldiger da und wird unehrenhaft aus der Armee entlassen. Es folgen eine Karriere als Kopfgeldjäger, schließlich ein Neustart als Rennfahrer.
Ein sehr spannender Roman, mir hat ja bereits der andere Band gefallen. Negativ lässt sich allenfalls anmerken, dass die einzelnen Lebensstationen sehr abgehackt aufeinander folgen. Es sind eigentlich vier Kurzromane statt eines langen, insofern hat man auch nicht einen durchgehenden Spannungsbogen, sondern drei bis vier Kurzbögen. Aber das schadet nicht wirklich, mir hat's trotzdem Spaß gemacht. Und ich werde mir demnächst mal die weiteren Romane über Ryan Spirit Hawk anschaun.
Salman Rushdie: Die satanischen Verse
Ein Buch, das ich schon ziemlich lange auf meiner To-do-Liste habe. Jetzt habe ich, auch wegen des Attentats auf den Autor, es endlich wahr gemacht. Das musste jetzt mal sein.
Zunächst: Es ist keine ganz leichte Kost. Es ist ein ziemlich dicker Wälzer, und man braucht als Leser schon einige Zeit, um in die Geschichte hinein zu kommen. Die Handlung ist ziemlich verwickelt, spielt auf mehreren Zeit- und Realitätsebenen und hat für den europäischen Durchschnittsleser mit ihren indischen und arabischen Bezügen schon einige Arbeitsaufgaben parat. Hilfreich ist das Glossar im Anhang.
Ausgesprochen ärgerlich finde ich die vielen Deutschfehler und sprachlichen Grenzwertigkeiten in dem Buch. Bei einem Großverlag eines internationalen Autors kann man schon erwarten, dass die Übersetzer, Lektoren und Korrekturleser eine Ahnung von der deutschen Sprache haben. Wenn ich lese, dass eine Frau "gebärte", dann kriege ich fast selbst Wehen. Gnarf.
Worum geht es? Rushdie erzählt die Geschichte zweier indischer Schauspieler, die zu Beginn des Buchs mit einem Flugzeug abstürzen. Auf wundersame Weise überleben sie jedoch, wobei der eine nach und nach die Züge und den Charakter eines Erzengels annimmt, während der andere sich gegen seinen Willen in einen bocksfüßigen Teufel verwandelt. Der Engel ist es denn auch, der Mohammed die legendären "satanischen Verse" eingibt, die später aus dem Koran getilgt werden.
Rushdie ist vorsichtig. Er lässt die Episode mit den Versen in doppelter, ja dreifacher Brechung spiegeln, verleiht ihr eine durch mehrfache Realitätsebenen gebrochene Unwirklichkeit. Das Ganze spielt in der halbirrealen Welt nach dem Flugzeugabsturz. Es kommt zunächst daher wie ein historischer Roman. Mohammed wird vom Oberhaupt der Mekkaner angegangen, ob er nicht bei seinem radikalen Monotheismus eine Ausnahme machen könne und die drei für Mekka so unendlich wichtigen Kulte der Göttinnen Al-Lat, Uzza und Manat erhalten. Dafür wird ihm Macht und Einfluss und eine problemlose Übernahme der Stadt versprochen. Vielleicht lässt Mohammed sich auf den Deal ein und verkündet aus staatsmännischer Berechnung, Al-Lat, Uzza und Manat seien "edle Vögel", und ihre Fürbitten seien nicht vergebens. Vielleicht hat er tatsächlich eine Vision, die ihm diese Worte in den Mund legt. Klar ist nur, dass seine Anhänger, allesamt überzeugte Monotheisten, maulen und den Aufstand proben. Daraufhin geht Mohammed erneut auf den Berg und kommt mit der Botschaft zurück: Dies seien Verse gewesen, die ihm nicht der Erzengel Gibril eingegeben hat, sondern sie seien vom Satan gekommen. Und er verkündet die Neufassung der Sure.
Diese Geschichte, die zunächst nur in Prosa erzählt wird, wird gleichzeitig von dem Schauspieler Gibril, einem der beiden Abgestürzten, wie in einer eigenen Vision mitempfunden. Wobei er selbst sich in einer Art Doppelrolle wiederfindet, gleichzeitig als Erzengel und als Mohammed, der mit dem Erzengel, also er selbst mit sich selbst, verschmilzt. Zu allem Überfluss wird später auch noch gesagt, es handele sich um ein Drehbuch für einen religiösen Film.
Trotzdem reichte bereits die Erwähnung, die literarische Bearbeitung, aus, um einen islamischen Geistlichen dazu zu bringen, die Fatwa gegen Rushdie auszusprechen.
Ich muss gestehen, als ich vor einigen Jahren den Koran las, war die satanische Stelle für mich zwar interessant, eine spannende Anekdote und ein Blick in den historisch-kritischen Apparat des Koran. Die Sprengkraft dieser Stelle war mir damals noch überhaupt nicht klar, und ich begann erst jetzt bei der Rushdie-Lektüre, sie zu ahnen.
Diese kleine Ecke ist die große Achillesferse des Koran. Wenn man bei diesen Versen zugeben musste, dass da etwas mit der Offenbarung nicht ganz astrein war, dann darf man an jeder anderen Sure auch mal ganz vorsichtig anklopfen und fragen: Na, war das hier wirklich der Erzengel, der dir das eingegeben hat? Oder war's vielleicht doch der Teufel, und du hast es nur diesmal nicht gemerkt? Letzten Endes kann aber auch tatsächlich der ganz große Sündenfall des Mohammed dahinterstecken. Nach menschlichem Ermessen sogar bestimmt. Denn das hieße, dass Mohammed aus macht- und bündnispolitischem Kalkül selbst die Botschaft gefälscht hat ...
Ich will nicht sagen, dass ich die Fatwa für gerechtfertigt halte. Aber dass der eine oder andere Geistliche da austickt und Schaum vor dem Mund hat, erscheint mir logisch. Das war ja im Christentum auch so, als die Reformatoren ihre kritischen Thesen nicht mehr auf Latein in einem kanalisierten Wissenschaftsbetrieb veröffentlichten, sondern auf Deutsch, wo es jeder lesen konnte. Ähnlich ist das hier, wenn Rushdie sich in der Sprache der Belletristik mit Millionenauflage einem Thema widmet, das fromme Muslime lieber unter der Decke gehalten hätten.
Erik Fosnes Hansen: Ein Hummerleben
Nichtssagend, verzichtbar, verschwendete Lebenszeit. Die Geschichte plätschert eben so dahin. Der Ansatz ist ja nicht schlecht. Es geht um den Niedergang eines Nobelhotels und um die Suche des Hoteliers-Enkels nach Spuren seiner verschwundenen Mutter. Aber es bleibt alles seicht, trotz einiger Szenen, die dramatisch hätten sein können. Es gibt exakt eine wirklich aufregende Stelle in dem Buch, und zwar auf der viertletzten Seite. Aber der extrem grelle Schockeffekt wird bereits im nächsten Absatz widerrufen. Nee, es ist absolut nichts los mit diesem Buch, Finger weg davon.
Athenaios von Naukratis: Das Gelehrtenmahl
Athenaios gehört zu den Vertretern der so genannten "Buntschriftstellerei". Eine Literaturgattung, deren Werke gekennzeichnet sind durch die Aneinanderreihung von kürzeren Erzählungen, Anekdoten und "Wusstest du schon?"-Texten. Titelgebend war eine Sammlung von Älian, die "Bunte Geschichten hieß" und die ich im Dezember las. Die Buntschriftstellerei begann in der römischen Kaiserzeit. Sie war aber auch im Mittelalter sehr beliebt. Also, salopp formuliert: Es ist eine Sammlung von Kurztexten, die mal mehr, mal weniger zusammenhängen und die den Leser amüsieren sollen. Einen Gesamtspannungsbogen gibt es nicht, aber Athenaios hat für seine Sammlung eine Rahmenhandlung und gliedert sie nach Büchern. Es geht darum, dass sich eine Reihe Gelehrter zu einem Gastmahl treffen und sich über alles mögliche unterhalten. Über bestimmte Gerichte, über Tischsitten, über Luxus, freigebige Herrscher, Verschwender, schöne Frauen, bedeutende Kunstwerke, fremde Völker und so weiter.
Der vorliegende Band, den ich antiquarisch erhielt, stammt aus der Sammlung Dieterich und erschien im Jahr 1985. Es handelt sich um eine Auswahl und - wie es die Übersetzer im Nachwort für sich in Anspruch nehmen - um die erste Athenaios-Übersetzung in deutscher Sprache.
Der ganze Athenaios ist so umfangreich, dass er einen Leser durchaus erschlagen kann. Ich hatte im Studium mal ein Erinna-Zitat aus dem Gelehrtenmal gesucht und erinnere mich noch mit einigem Respekt an die griechisch-englische Ausgabe in der Anglisten-Bibliothek der Uni Hannover. Irgendwie spukt mir im Kopf herum, dass es 40 Bände im Regal waren. Jetzt, bei der Nachsuche im Bibliothekskatalog, fand ich nur eine siebenbändige Ausgabe. Jedenfalls war es ein langes Regal voll. Angeschafft hatte ich mir die Dieterichs-Ausgabe übrigens auch wegen des Erinna-Zitats. Aber gerade die Stelle war nicht drin.
Insgesamt ein sehr amüsant zu lesendes Buch. Vielleicht für zwischendurch im Bus oder Zug oder auch auf dem Klo geeignet. In der Gesamtheit etwas, das eher ein buntes Rauschen im Gehirn erzeugt aber keinen bleibenden Eindruck. Insgesamt aber eine reiche sprudelnde Quelle, denn fast jeder, der in der Antike mal etwas gesagt oder getan hat, ist hier erwähnt. Insofern auch ein Buch, das ein Register braucht und das man immer wieder zum Nachschlagen benutzen kann, nur nicht unbedingt zum Lesen im Zusammenhang geeignet.
Torquato Tasso: Befreites Jerusalem (Reclam)
Eine uralte zerfledederte und geklebte Reclam-Ausgabe. Keine Jahresangabe, aber es ist aus der Zeit, als die Reclamhefte ein blassbraunes Design und eine Säule auf dem Titel hatten. Also aus der ersten Zeit ab 1887. Frakturgedruckt und etwas schwülstig in der Übersetzung (J. D. Gries), aber in Versen und gereimt. Im hinteren Bereich waren ein paar Seiten noch nicht aufgeschnitten.
Tja, wie ist es? Man merkt schon, dass Tasso nicht Homer ist. Wo jener mit urwüchsiger, mythischer Power einfach aus sich selbst heraus spricht, ist das hier ein zierliches Kulturpflänzchen, das schöne Verse macht und christlich-höflisch daherkommt. Man braucht einige Zeit, um hineinzukommen. Es geht um Gottfried von Bouillon und seine Kreuzfahrer, die vor Jerusalem lagern und die Stadt von den Heiden befreien wollen. Nach und nach gewinnen die Helden und Heldinnen an Kontur. Und es stimmt nicht, dass Christen nicht tragisch sein können.
Was auffallend ist: Beim Lesen habe ich verstanden, warum Goethe in seinem Tasso den Dichter als einen Liebling der Frauen dargestellt hat. Ich habe noch nie ein Schlachtengemälde gelesen, in dem so viele unterschiedliche und sorgfältig ausgestaltete weibliche Figuren vorkommen. Und das nicht nur als Nebenhandlung.
Getragen wird das Ganze vor allem von Clorinde, der jungfräulichen Amazonenriegerin, und Armida, einer sarazenischen Zauberin, die dem christlichen Heer schwer zu schaffen machen. Aber auch die fromme Christin Sofronia, die in Jerusalem beinahe den Märtyrertod erlitten hätte, und Erminia, die aus Liebe zum Christenritter Tancred in Clorindes Rüstung aus Jerusalem flieht, sind hier zu nennen. Fast alle sind in Tankred verliebt (ich auch ein wenig), nur zwischen Armida und Rinaldo knistert es auch.
Ein bisschen anstrengend, aber nicht schlecht. Und lesbarer als der "Rasende Roland" ist es auf jeden Fall.
Weitere Jahresrückblicke
Teil I: Januar bis März 2022
Teil II: April bis Juni 2022
Teil III: Juli bis Oktober 2022
Teil V: Dezember 2022
© Petra Hartmann