Weihnachten. Ich hatte schon geglaubt, ich schaffe es nicht mehr, bis zum Fest alle Weihnachtsgeschenke auszusuchen, anzuschaffen und einzupacken. Aber es hat irgendwie doch noch geklappt. Und jetzt sitze ich bald mit meinen Lieben unter dem Weihnachtsbaum. Bleibt mir nur noch, euch ein schönes, friedliches und seuchenfreies Fest zu wünschen. Kommt gut durch die Weihnachtszeit und die stillen Tage danach. Mein Weihnachtsmärchen ist dieses Jahr, passend zu den Umständen, ein wenig düsterer geworden. Vielleicht bekomme ich ja ganz viele Beschwerden von euch ... Egal, auch das gehört zu Weihnachten. Alles Liebe - eure Petra
Die Botschaft„Schädelbasisbruch, verursacht vermutlich durch einen Sturz aus großer Höhe. Verkrümmte Wirbelsäule, steife Knie. Seit zwei Tagen ohne Bewusstsein. Der Patient ist männlich, etwa 40 Jahre alt, Identität noch ungeklärt, Zustand stabil.“
Der Chefarzt las die Daten aus der Patientenakte vor und würdigte den Mann im Bett keines Blickes. Die Studenten traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Eigentlich wollten sie alle schon längst zu Hause sein, immerhin war morgen Heiligabend. Gleich nach der Visite würden die meisten von ihnen aufbrechen. Hoffentlich wollte der Professor jetzt nicht noch lange über diesen alten Gammler reden wollen, den man vorgestern auf der Landstraße gefunden hatte. Erleichtert atmeten sie auf, als er die Akte weglegte. „Tja, meine Herren“, meinte er nur, „das war's für heute. Ein frohes Fest und einen guten Rutsch wünsche ich Ihnen.“
Die Studenten murmelten einen Gruß, und während die Schwester einen neuen Tropf mit Kochsalzlösung anschloss, verließen sie nach und nach das Zimmer.
„Ja, das war's für heute“, meinte die Schwester, mehr zu sich selbst, als zu dem Patienten. Sie hatte müde Augen, und ihre Füße schmerzten. Die Schichten an Weihnachten waren schon immer unterbesetzt gewesen, aber heute waren auch noch zwei Kolleginnen krank geworden, und eine weitere hatte zum Jahresende gekündigt und hatte noch ihren Resturlaub zu nehmen. Sie selbst war auch mehr als urlaubsreif.
Ein letzter Blick auf den Bildschirm. Der Herzschlag des Patienten ging regelmäßig, der Sauerstofffühler am Zeigefinger saß fest, die Blutsättigung war in Ordnung, der Urinbeutel erst halb gefüllt. „Wer magst du sein?“, fragte sie leise. Dann verließ sie das Zimmer.
Keinen Augenblick zu früh, denn als sie auf den Flur trat, leuchteten schon die Lampen über den Türen zu Zimmer 5, 11 und 14. Ach ja, der Alte in der 14 hatte schon seit einer halben Stunde die Bettpfanne unterm Hintern, und der Niere von Zimmer 11 hatte sie noch irgend etwas zugesagt, wenn sie sich nur erinnern könnte, was es gewesen war. Der Schlaganfall in der 5 musste auf die andere Seite gedreht werden, damit er sich nicht wundlag.
In diesem Augenblick flammte das Licht über der Tür zur 8 auf. Die Schwester kam gerade noch rechtzeitig, um einem Patienten eine Nierenschale unters Kinn zu halten. Der Mann erbrach sich, und ein Großteil der braunen Brühe landete auf dem Deckbett. Die Schwester räumte die Schale weg und zog das Deckbett ab. „Ich bin gleich wieder da“, versprach sie. Trotzdem dauerte es eine gute halbe Stunde, bis sie mit einem neuen, sauberen Bezug zurückkehrte.
Schuld war ein Alarm in der 7, als ein verwirrter 83-Jähriger sich den Drei-Wege-Hahn aus dem Arm gerissen hatte. Mit der Unterstützung eines Assistenzarztes und der Schwesternschülerin gelang es, den Mann wieder ruhig zu stellen und ihn im Bett zu fixieren.
Die Schwesternschülerin wischte das Blut auf, die Schwester holte derweil den Patienten aus der 14 von der Bettpfanne. Der Topf war voll bis obenhin und stank. Aber das roch die Schwester kaum noch. Sie sprühte dem Mann den Hintern voll mit Reinigungsschaum und wischte ihm nicht eben sanft die Poritze aus. Er schimpfte. Aber sie nahm es kaum wahr. Deckel drauf und fort mit dem Topf in die Spülung. „Kümmerst du dich um die 11?“, bat sie die Schülerin. Die nickte.
Es war nicht zu schaffen. Wie sollten sie und die Schülerin diese Nacht durchstehen? Angst kroch in ihr empor. Ein einziges übersehenes Licht, ein überhörter Alarm. Oder, schlimmer noch, zwei Alarme gleichzeitig, und sie müsste sich entscheiden. Es war nicht zu verantworten, was sie hier taten. Irgendwann musste es passierten, es war nicht die Frage, ob etwas schiefging, es ging nur noch um das Wann.
Während sie das Deckbett in der 8 neu bezog, ging der Alarm in der 12 los. Sie sprang aus dem Zimmer und lief hinüber zu dem Patienten ohne Identität. Sauerstoff - Null, registrierte sie. Doch dann atmete sie erleichtert auf. Da war nur der angeklemmte Fühler abgefallen. Das ließ sich leicht beheben. Als sie die Plastikklemme wieder auf den Zeigefinger des Mannes schnappen ließ, stutzte sie. Hatten nicht eben seine Augen geflattert?
„Komm schon“, flüsterte sie. „Wach auf.“
Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Ja. Die Wimpern hatten sich bewegt. Sie fasste seine Hand an, spürte Wärme, beinahe Hitze. Als sie wieder hochblickte, sah sie genau in seine himmelblauen Augen. Sehr verwirrte blaue Augen, die sich angestrengt zusammenzogen, dann wieder schlossen. Seine Finger krampften sich um ihre Hand. Dann öffnete er die Augen erneut.
„Guten Tag, ich bin Schwester Elke“, sagte sie. „Sie hatten einen Unfall.“
Wieder senkte er die Lider. Er schien nachzudenken.
„Verstehen Sie mich? Können Sie sich erinnern?“
Er schüttelte den Kopf und verzog sofort wie unter Schmerzen das Gesicht.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Schlecht“, flüsterte er.
„Haben Sie Schmerzen?“
„Ich ... weiß nicht.“
„Erinnern Sie sich noch an den Unfall?“
„Ich ... weiß nicht.“
„Wie ist Ihr Name?“
Der Mann sah sie verwirrt an. Er kniff die Augen zusammen, ganz so, als versuche er krampfhaft, sich an etwas zu erinnern. „Ich glaube, mein Name ist nicht so wichtig“, murmelte er. „Aber da war etwas. Etwas anderes. Ein Satz. Ein wichtiger Satz.“
„Amnesie“, diagnostizierte die Schwester. „Gedächtnisverlust. Vermutlich von Ihrem Sturz. Sie sind auf den Kopf gefallen und haben sich schwer verletzt. Ich werde einen Arzt rufen. Sie brauchen keine Angst zu haben.“
„Warten Sie.“ Der Mann richtete sich halb auf. „Dieser Satz. Ich hatte eben das Gefühl, ich würde mich erinnern.“
„Ja?“
Hoffnungsvoll sah sie ihn an. Doch dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, doch nicht. Es war wichtig. Ich sollte jemandem etwas ausrichten. Eine Nachricht. Wenn ich mich doch bloß ...“
„Es wird schon wiederkommen. Erzwingen Sie nichts. Sie werden sehen, wenn Sie ganz ruhig bleiben, irgendwann fällt es Ihnen wieder ein.“
„Sie haben gut reden. Ach bitte, würden Sie mir das da bitte abnehmen?“
„Den Tropf? Eine Viertelstunde noch, dann ist er durchgelaufen.“
Erschrocken fuhr sie in die Höhe. Der Schlaganfall in Zimmer 5 wartete noch immer auf sie.
„Ich muss weiter. Ich schicke Ihnen den Arzt. Und bitte: Ganz ruhig bleiben. Haben Sie keine Angst. Alles wird gut.“
Als sie auf den Flur trat, hörte sie laute Hilfeschreie aus Zimmer 7. Sie kannte die Stimme. Das war der Patient, der jede Nacht Albträume hatte. Dann wachte er auf und schrie die ganze Station zusammen in seiner Panik. Besser, sie beeilte sich und gab ihm ein Beruhigungsmittel.
Der Patient ohne Gedächtnis richtete sich auf. Halb glaubte er, sich an die Worte zu erinnern, die er weitergeben sollte. Er hielt sich den schmerzenden Kopf. Die Nachricht war da, zum Greifen nahe, und dann doch wieder ungreifbar und fern. Diese Schwester. Elke. Irgend etwas, das sie gesagt oder getan hatte, es hatte etwas damit zu tun. Aber die Worte lagen wie hinter Schleiern in seinen Gedanken. Panik stieg in ihm auf. Was, wenn er sich nie wieder erinnern würde? Die Botschaft war wichtig gewesen, so unendlich wichtig.
Langsam ließ er seine Füße aus dem Bett gleiten. Der Boden war kalt unter seinen nackten Füßen. Das Nachthemd war hinten offen, er spürte die Kälte auf seinem Rücken. Als er mit der Hand an seine Schulter griff, um den Stoff zurecht zu ziehen, spürte er, wie krumm sein Rücken war. Er war bucklig? Hatte ihm der Unfall die Wirbelsäule derart verbogen? Seine Beine waren steif, fast war er außerstande, die Knie zu bewegen. Doch dann schaffte er es, sich aus dem Bett zu erheben. Mit steifen Beinen ging er zur Tür, den Urinbeutel und den Tropf am Ständer hinter sich herziehend.
Auf dem Flur leuchteten vier Türlampen. An einer Tür signalisierte ein rotes Licht, dass die Schwester im Zimmer war.
„Hilfe! Hilfe!“, tönte es aus einem der Zimmer. „Hilfe, man hält mich hier fest! Polizei!“
Der Mann ohne Gedächtnis öffnete die Tür. Da lag jemand. Die Hände waren mit weißen Mullbinden am Bettgitter festgebunden. Der Mann riss an den Binden und warf den Kopf hin und her. Panik blickte aus seinen Augen. Wieder schrie er um Hilfe.
„Gehn Sie mal zur Seite, Sie stehn im Wege“, blaffte ein Weißkittel hinter ihm. Der Arzt drängte sich ins Zimmer und trat ans Bett. Er zog eine Spritze auf und injizierte dem Patienten ein Beruhigungsmittel in den Zugang am Unterarm. Der Man wehrte sich. Doch dann wurde er ruhiger. Der Kopf sank auf das Kissen. Dann war er eingeschlafen.
Der Mann ohne Gedächtnis stand verwirrt in der Tür. Für einen Augenblick hatte er gemeint, dass genau dieser Mensch der Empfänger seiner Nachricht hätte sein sollen. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Wenn er sich doch nur auf die Worte besinnen könnte. Es war ein ganz kurzer Satz gewesen. Nur einer. Zwei oder drei Wörter. Höchstens vier. Es war so wichtig.
Mit hängendem Kopf und steifen Beinen ging er weiter. Den Gang entlang bis zur Glastür. Da war ein Fahrstuhl. Er schob den Tropfständer vor sich her in die Kabine. Ratlos musterte er die Buchstaben neben den Metallknöpfen. Hatte er einmal Lesen gelernt? Er schüttelte den Kopf. Nein, offenbar nicht. Er atmete tief durch. Es hätte so vieles vereinfacht, wenn er die Botschaft auf einem Blatt Papier hätte überbringen können. Aber so hatte man seinem Gedächtnis vertrauen müssen. Denk nach, die Schwester, die hatte so etwas gesagt ... Da war nichts in seinen Gedanken, das antwortete.
Resigniert drückte er auf einen Knopf und zuckte erschrocken zusammen, als sich die Kabine in Bewegung setzte. Was, wenn der Kasten abstürzte? Er erinnerte sich nicht an den Unfall, aber die Schwester hatte von einem Sturz gesprochen.
Vor der Tür der Intensivstation hockte eine alte Frau, bleich und in sich zusammengesunken. Ihre Lippen bewegten sich tonlos. Sie sah ihn nicht. Nur wenn die Tür aufging, blickte sie hastig hoch, suchte das Gesicht des Arztes oder des Patienten, den sie herausschoben. War sie diejenige, für die seine Botschaft bestimmt war?
In der Notaufnahme hörte er Schreie. Ein breitschultriger Kerl hatte einen Arzt gepackt. Er schüttelte ihn hin und her. „Mach sie gesund, verdammt nochmal, schrie der Mann. Mach sie gesund, sonst ...“ Drei Pfleger stürzten herbei, sie hatten kaum eine Chance. Aber dann beruhigte sich der Mann wieder. „Mach sie gesund ...“, flüsterte er und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Der Arzt wankte hinüber in den OP. Seine Hand zitterte.
In der Quarantänestation konnte man die Angst, die in der Luft lag, beinahe mit Händen greifen.
Im Foyer herrschte trübe Einsamkeit. Vor der Tür hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Männer und Frauen mit wutverzerrten Gesichtern brüllten Parolen und hielten Schilder hoch. Er konnte sie nicht lesen. Er sah nur die angespannten Gesichter der Polizisten hinter ihren Visieren und die geballten Fäuste. Ob einer von diesen Menschen der Adressat war? Sah irgend jemand dort aus, als erwartete er eine Nachricht? Und wenn ja, welche?
Da, plötzlich, sah er aus dem Augenwinkel etwas leuchten. Langsam wandte er den schmerzenden Kopf. Sein krummer Rücken straffte sich. Eine schöne, große Holzkrippe war es. Maria und Joseph, ein kleines Kind im Heu. Da waren ja auch der Ochse und der Esel. Und eben kamen ein paar Hirten von der Seite herbei, und die Schafe liefen auch um sie herum. Er holte tief Luft. Dann begannen seine blauen Augen zu leuchten. Natürlich. Es war ja alles so einfach. Wie hatte er das nur vergessen können? Wie hatten die Menschen das nur vergessen können? Ja, man musste es ihnen noch einmal sagen. Man konnte es gar nicht oft genug sagen.
Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, als er erneut in den Fahrstuhl stieg. Bis ganz nach oben fuhr er. In den zwölften Stock. Dann trat er hinaus auf das Dach des Krankenhauses. Es war schon weit nach Mitternacht, und hier oben wehte ein eisiger Wind. Doch er spürte es nicht. Mit nackten Füßen und wehendem Engelhemdchen trat er an den Abgrund. Wie weiße Flügel umflatterte das Hemd ihn, und ein Glanz ging von ihm aus, ein helles Licht wie von tausend Scheinwerfern. Hoch aufgerichtet stand er im Wind. Tief holte er Luft, und dann rief er, er rief es laut hinaus über die Stadt und das ganze Land, und alle hörten es, und es war längst an der Zeit, dass es jemand den Menschen sagte:
„Fürchtet euch nicht!“
© Petra Hartmann