Der Hildesheimer Marienfriedhof hat sich an diesem Wochenende in eine Literaturlandschaft verwandelt. Verse, Installationen, Lesungen, Vorträge, Dichter, Leser und Neugierige - das alles zusammen nennt sich Lyrikpark - und diesmal habe ich es tatsächlich geschafft hinzugehen ...
"Abgeschleppt" hat mich Elfenschrift-Herausgeberin Ulrike Stegemann, mit der ich mich schon seit Monaten mal wieder treffen wollte. Und dann war ja auch noch Autorenkollegin Gaby Memenga ("Das Paradies der Frösche") dabei, die mit einem vierminütigen Beitrag die Lesung der Hildesheimlichen Autoren mitgestaltete. Alles in allem also Gründe genug, mal wieder nach Hildesheim zu fahren.
Marienfriedhof wird LiteraturlandschaftDer Marienfriedhof wird seit langem nicht mehr als Friedhof genutzt. Es handelt sich um eine Parkanlage mit schönen alten Bäumen, zwischen denen noch einige verwitterte grünliche Sandsteingrabsteine und ein paar alte Monumente an die ursprüngliche Begräbnisstätte erinnern. An diesem Wochenende war der Park eher poppig bunt, und schon von weitem sah man Stühle in den Baumkronen, flatternde Buntwäsche an Wäscheleinen, Zelte, Bühnen, Tafeln und überall Gedichte, Worte, riesige Buchstaben.
16 "Hildesheimliche Autoren" im VierminutentaktDie Lesung der Hildesheimlichen Autoren war eine logistische Meisterleistung. Immerhin: 16 Schriftsteller unter einen Hut zu bringen und dafür zu sorgen, dass alle in der richtigen Reihenfolge auf die Bühne stiegen, das ist schon ein kleines Kunststück. Und dann auch noch darauf achten, dass jeder sich an die vorgegebenen vier Minuten hielt ... Die Gruppe ist sehr vielseitig, wobei mich überrascht hat, dass sehr viel Prosa, sogar überwiegend Prosa, vorgetragen wurde. Schön die Idee, allen Zuhörern ein kleines Heft mit den vorgetragenen Texten zu schenken. Da habe ich etwas zum "Schwarz-auf-weiß-getrost-nach-Hause-Tragen".
Holztafeln voller "-lich"Interessant fand ich den Holzkreis "Woodhenge" des Künstlers Detlev Backhaus. Er hatte auf immer größer werdenden Holzplanken, spiralig in den Grasboden gesteckt, Adjektive eingebrannt, die auf "-lich" endeten. Hab sie mir alle durchgelesen, zum Teil meine Gedanken dazu gemacht und am Ende festgestellt, dass das Wort "schwerverdaulich" fehlte ...
Verse aus dem FrauengefängnisEin Grabgitter war mit Kurzgedichten von Frauen aus dem Hildesheimer Frauengefängnis geschmückt. Die Texte, oft Haiku oder ählich, drehten sich um das Thema gut und böse, hell und dunkel, um Gewalt oder um Liebe und Hass, das Ganze illustriert von einer schwarzen und einer weißen Stoffpuppe, die sich an den Schmalseiten des Grabes gegenüberstanden.
Hildesheimer Sprachenvielfalt am Hörbaum Wie aus dem Zauberland Oz mutete eine Installation an, die von Radio Tonkuhle stammt - der Hörbaum. Bunte Regenschirme baumelten von den Ästen, daran hingen Kopfhörer, aus denen man Lieder und gesprochene Texte in fremden Sprachen hören konnte. Faszinierende Klänge, und laut Programm alles aus Sprachen und Dialekten, die in Hildesheim zu Hause sind. Schade nur, dass man keine "Auflösung" hörte. Ich glaube, ich habe etwas Slawisches im Ohr gehabt.
Post von Uwe Johnson und Goethes MutterFestgelesen habe ich mich an den "Briefkästen", Fensterrahmen an den Alleebäumen, die Texte von alten und modernen Klassikern enthielten. Besonders gefreut habe ich mich über eine Postkarte von Uwe Johnson, und wir hatten viel Spaß an einem Brief von Frau Rath an ihren Wolfi.
Insgesamt, nun ja, ich muss gestehen, ich "habe" es nicht so mit Installationen. Ich bin ein Textmensch, obendrein Prosaist, und stellenweise war es mir einfach zuviel Deko und zuwenig Literatur.
Umwerfend: Michael Zochs "Kometen vom Fass"Aber dann, kurz vor dem Ausgang, o mein Gott, dass es sowas gibt ... Da knallt dir plötzlich einer einen Wortausbruch vor den Hirnkasten, dass dir Hören und Lesen vergeht. Dieser Michael Zoch saß auf einem von fünf poppig bunten "Lyrik-Stühlen", auf denen zwischen Graffiti-Figuren Gedichte zu lesen waren. Ich hörte bloß noch neben mir eine Stimme: "Also, irgendwie verstehe ich davon nicht viel ..." und denke nur: "Nein, warte mal, das hier ist gut, das ist verdammt gut." Nach so viel netter und gut gemeinter Oberstudienrätinnenlyrik hockt da tatsächlich ein richtiger Dichter, schleudert Sprachtsunamis von Sonne, Sex und Zigaretten aufs Papier, bringt Worte und Bilder zusammen, die sich vorher noch niemals begegnet sind, alles nicht gerade meine Welt - aber eben Welt, Leben, so verdammt viel davon ... Kurz und gut, ich nahm mir seinen Gedichtband "Kometen vom Fass" mit nach Hause, hab ihn inzwischen verschlungen und habe auch die besten Vorsätze, noch etwas darüber zu schreiben. Wenn ich meine Gedanken wieder einigermaßen sortiert habe und weiß, was und wie ich darüber schreiben soll. Falls. Bis dahin erstmal der dringende Rat: Kauft
dieses Buch!
Nachtrag:Meine Rezension zu den "Kometen vom Fass" von Michael Zoch findet ihr hier:
http://www.scifinet....eten-vom-fass/© Petra Hartmann