Christoph Marzi: Charing Cross
Die Novelle beginnt in der Straße Charing Cross in Soho, und zwar in einem Antiquariat, in dem der Ich-Erzähler Richard einer geheimnisvollen Frau begegnet. Die schöne, melancholische und natürlich charismatische Dame kann beim Anblick eines der dortigen Bücher die Tränen nicht unterdrücken, eine Erinnerung an ihre Jugend, ein lange vergangenes Leben ... Richard und die geheimnisvolle "Miss Mirror" oder auch Ida Francis kommen sich näher, und noch näher. Seltsam nur, dass er sich auf dem Rückweg von ihrem Hotelzimmer beobachtet fühlt. Ein beängstigendes Heulen liegt in der Luft. Und diese unheimliche, durchscheinende Gestalt, die ihm folgt, lässt Schlimmes ahnen. Nein, es ist nicht Jack the Ripper, wie der Leser angesichts der Erwähnung der Station Whitechapel zunächst vermuten mag. Aber dieses Schwächegefühl nach jeder Nacht mit Ida und ihre Angewohnheit, ihren Partner beim Geschlechtsverkehr zu beißen, machen bald deutlich, dass man es hier mit einem ganz anderen Kind der Nacht zu tun hat. Allerdings ... Nein, eine klassische Vampir-Story wird es dann doch nicht, was Christoph Marzi erzählt. Dafür sorgt das ungefähr zwei Drittel des Buches ausmachende Tagebuch, das Ida in dem Antiquariat entdeckt hat. Es handelt sich um die Lebensbeschreibung der österreichischen Kaiserin Sisi, die, jenseits von "k. und k.-Kitsch" aufgezeichnet hat, wie es damals wirklich war mit ihr, dem Franzl, dem Grafen Andrássy und dem bayerischen Märchenkönig Ludwig.
Die Erzählung punktet durch ungewöhnliche Kombinationen und durch ihre eingängige Sprache. Als weniger gelungen muss allerdings das Tagebuch gewertet werden, das vor allem - lang ist. Trotz des nicht ganz unspannenden Sujets "Sissi und die Untoten" ist die Sache etwas sperrig und trocken geworden, den Tonfall der Frau bekommt Marzi nicht recht hin, und so hat diese Kaiserin recht wenig Fleisch auf den Rippen. Erschwerend hinzu kommt, dass das gesamte Tagebuch kursiv gedruckt ist. Das macht das Lesen der immerhin 80 Seiten auch für die Augen etwas anstrengend und ermüdend. Vor allem unterbricht es den Fluss der London-Geschichte, die ja mehr als eine Rahmenhandlung ist, auf sehr ungeschickte Weise.
Wie der Autor im Nachwort verrät, handelt es sich bei "Charing Cross" um seine erste Novelle, "die ihren Weg in ein Lektorat fand", ein Jugendwerk, das immer wieder "zwischen den Stühlen" hing, nicht nur wegen der Länge, sondern auch wegen der Vermischung der Genres, kein historischer Roman, und auch kein Horror-Roman. Daher mag auch das Ungelenke der einmontierten Tagebuch-Geschichte kommen, die ein bisschen fanzine-haft wirkt. Für den Genremix aber und für die Ideenvielfalt auf jeden Fall ein dickes Lob, das konnte sich schon sehen lassen.
Fazit: Novelle mit ungewöhnlichen Begegnungen, schön düster, in der Mitte etwas sperrig, aber interessant. Lesenswert.
Christoph Marzi: Charing Cross. Homburg/Saar: UlrichBurger-Verlag, 2015. 2. Aufl 2018. 148 S., Euro 7,50.
© Petra Hartmann
Weitere Bücher aus der Novellenreihe des UlrichBurger-Verlags:
Jens Schumacher: Der Hügel von Yhth
Aileen P. Roberts: Feenfeuer
Stephan Lössl: Jäger im Zwielicht
Lilach Mer: Seacrest House
Stephan R. Bellem: Die Ballade von Tarlin
Thilo Corzilius: Der Herr der Laternen