Zitteraale in der Nordsee - gibt's das? Ein paar Anmerkungen zu meinen Meermädchenromanen "Nestis und die verschwundene Seepocke" und "Nestis und die Hafenpiraten". Es geht um Salzwasser, den Amazonas, Liz Kessler und den gefährlichen "Ball Cutter" ...
Einer der markantesten Nordseebewohner in meiner Nestis-Serie ist der kleine Zitteraal Kurzschluss. Bei seinen Mitschülern nicht gerade beliebt, weil er manchmal versehentlich Stromstöße abgibt, konnte er doch das Herz eines Wesens erobern, von dem niemand geglaubt hätte, dass es überhaupt ein Herz hat: Der strenge Mathelehrer Herr Seestern mag Kurzschluss, weil der kleine Zitteraal der Klassenbeste im Bruchrechnen ist. Aber muss man beim Schwimmen in der Nordsee nun tatsächlich Angst haben, versehentlich von einem aalartigen Elektrofisch geröstet zu werden? Im Prinzip nein. Aber ...
Meermädchen und Zitteraale in der Nordsee
Tatsächlich kommen in meiner Meermädchenserie Nestis zwei Arten von Lebewesen vor, die es in der Nordsee nicht gibt: Meermädchen und - Zitteraale. Und während ich - mental - überhaupt keine Probleme damit hatte, das Meer mit fischschwänzigen Menschen zu bevölkern (Hallo? Das ist eine phantastische Geschichte! Glaubt es gefälligst oder lasst es halt bleiben!), muss ich zugeben, dass mir die Anwesenheit eines beziehungsweise gleich mehrerer Zitteraale an der deutschen Nordseeküste einiges Bauchgrimmen verursachte. Aber ich wollte doch so gern einen Zitteraal haben!
Liz Kessler, Emily und die Glühbirne
Ganz und gar nicht gefallen hat mir die Art, wie Kollegin Liz Kessler, Verfasserin der berühmten Serie um die Meerjungfrau Emily, einen Zitteraal schildert. Dort heißt es nämlich in Band 1, "Emilys Geheimnis", als die Titelheldin zusammen mit ihrer Freundin Shona ein Schiffswrack erkundet:
"Shona schwamm zum Schreibtisch und zog an etwas. Sekunden später leuchtete ein orangefarbenes Glühen über mir auf. Ich blinzelte, um mich an das unvermutete Licht zu gewöhnen, dann hob ich den Blick, um zu sehen, wo das Licht herkam. Ein langes, schleimiges Wesen mit einem Stück Schnur am Schwanz hing unter der Decke.
'Ein Zitteraal', erklärte sie."
(Liz Kessler: Emilys Geheimnis. Aus dem Englischen von Eva Riekert. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2008. S. 125)
Das ist nicht nur fischverachtend - immerhin degradiert sie den Zitteraal mal eben zum Objekt und macht aus ihm einen Glühbirnen-Ersatz -, nein, ein Zitteraaal hat auch im Meer absolut überhaupt nichts verloren. Ich finde, auch als Autor von phantastischen Geschichten sollte man das thematisieren. Zitteraale sind Süßwasserbewohner, und, um ihren Lebensraum ganz genau zu benennen:
"Er lebt in schlammigen und sauerstoffarmen Süßgewässern im nördlichen und mittleren Südamerika, im Amazonasbecken, im Stromgebiet des Orinoco und in den damit verbundenen Flusssystemen." (Quelle: Wikipedia: Zitteraal)
Also: Keine Chance, ihn im Salzwasser der Nordsee zu halten, erst recht nicht bei deutschen Wassertemperaturen? Was tun?, sprach Neptun ...
Kurzschluss - ein neuer Nordsee-Bewohner
Im ersten Nestis-Buch habe ich den jungen Zitteraal Kurzschluss vorgestellt und dabei erklärt, wie und warum die Zitteraale in diese Gegend kamen. Mir war nämlich schon wichtig, dass Kinder beim Lesen erfahren, dass die Tiere dort eigentlich nicht hingehören. Das hörte sich dann so an:
"Der kleine Zitteraal war noch recht neu in der Klasse. Der Meerkönig hatte im vergangenen Sommer einige der schlangenartigen Elektrofische aus Südamerika in die Nordsee eingeladen, um sein Elektrizitätswerk zu gründen. Kurzschluss hatte sich bei seinen Mitschülern allerdings schnell unbeliebt gemacht, da er oft unkontrollierte, schmerzhafte Stromstöße abgab. Nur Herr Seestern schien Kurzschluss zu mögen, weil er so gut bruchrechnen konnte."
(Petra Hartmann: Nestis und die verschwundene Seepocke. Hildesheim: Verlag Monika Fuchs, 2013. S. 36.)
Zitteraale in Aquarien sind recht anspruchslos
So weit der literarisch-phantastische Aspekt. Die Frage bleibt allerdings im Raum: Wie sieht das Ganze aus biologisch-ichthyologischer Sicht aus? Hat ein Zitteraal in der Nordsee überhaupt Überlebenschancen? Verträgt er Salzwasser und norddeutsche Temperaturen?
Günther Sterba, dessen "Handbuch der Aquarienfische" mich und mein Aquarium seit dreieinhalb Jahrzehnten begleitet, bemerkt über Zitteraale, für sie gelte, wie für alle Vertreter der Unterordnung Gymnotoidei, die in Aquarien gehalten werden:
"Die Pflege der nicht nur hochinteressanten, sondern vielfach auch recht widerstandsfähigen Arten ist nicht schwierig, erfordert aber geräumige Aquarien. [...] Zu beachten ist ferner, daß alle Arten gegen Frischwasser empfindlich sind. Temperatur 23-20°C."
(Günther Sterba: Handbuch der Aquarienfische. 416 Süßwasserfische. Arten, Haltung, Pflege, Zucht. Zweite Auflage. Edition Leipzig, 1978. Lizenzausgabe: München, Bern, Wien: BLV Verlagssgesellschaft, 1978. S. 151f)
Widerstandsfähig also sind sie schon. Und große Ansprüche an die Wasserqualität stellen sie auch nicht. Aber Salzwasser?
Der Pacu - ein "Ball Cutter" in der Ostsee
Geradezu als ein Geschenk des Himmels empfand ich daher Berichte diverser Medien im Sommer 2013 über Fische der Gattung "Pacu", die in der Ostsee gefangen wurden. Der Pacu ist ein Verwandter des Piranhas und gehört in die Familie der Sägesalmler. So schrieb Spiegel Online (13. August 2013):
""Ball Cutter" nennen Fischer den Riesenpacu auch. Der ursprünglich nur im Amazonas lebende Fisch ernährt sich meist vegetarisch von Früchten und Samen, mit den breiten Zähnen zerlegt er auch Nüsse. Es sind aber auch tödliche Angriffe auf Menschen dokumentiert: Pacus haben schon mehrfach schwimmenden Männern die Hoden abgebissen - daher der Name "Ball Cutter". Sie sind mit den Piranhas verwandt, ihre Zähne aber weniger spitz.
Am 4. August hat nun ein Hobbyfischer einen Pacu in der Ostsee nahe Kopenhagen gefangen. Das knapp 30 Zentimeter lange Tier zappelte gemeinsam mit Aalen und Barschen im Netz, das vor der der Insel Saltholm im Öresund ausgelegt war."
(Quelle: http://www.spiegel.d...-a-916301.html)
Riesenpacu und Schwarzer Pacu sind anpassungsfähig
Der Riesenpacu und der schwarze Pacu scheinen durchaus anpassungsfähig zu sein und haben ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet inzwischen extrem stark erweitert. So heißt es über den Riesenpacu:
"Piaractus brachypomus kommt überwiegend im Amazonas und Orinoco vor. Ursprünglich trat die Spezies in Brasilien, Kolumbien, Bolivien, Peru, Venezuela, Argentinien und Uruguay auf. Infolge von Besatzmaßnahmen wurde sie auch in den USA, Kanada, China, Myanmar, Papua-Neuguinea und Taiwan eingeführt."
(Quelle: Wikipedia/Piaractus brachypomus)
Und der schwarze Pacu hat es immerhin schon in einige europäische Länder geschafft:
"Er lebt in den Stromgebieten des Amazonas und des Orinoko. Schwarze Pacus haben ihr natürliches Verbreitungsgebiet von Panama über Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Peru bis Südbrasilien.
Aufgrund seiner großen Anpassungsfähigkeit konnten ausgesetzte Exemplare in einigen Gewässern Hawaiis, Floridas und Texas kleine lokale Populationen bilden.
Einzelne Exemplare wurden auch in Polen, Kroatien, Skandinavien, Frankreich und Österreich gefunden."
(Quelle: Wikipedia/Schwarzer Pacu)
Woher der oder die Pacus aus der Ostsee stammen, wird vermutlich ein Rätsel bleiben. Vielleicht hat sie ein Aquarianer ausgesetzt, dem die Tiere einfach zu groß geworden sind. Möglicherweise ist der gefangene Fisch auch aus dem nahe gelegenen "Blue Planet Aquarium" ausgebüchst ...
Winterliche Nordsee-Temperaturen zu tief?
Bleibt zu fragen, ob die Tiere sich bei uns dauerhaft halten könnten. Nein, meint der Schweizer Tagesanzeiger (14. August 2013):
"Die exotischen Tiere werden offenbar von Eigentümern, denen sie als Haustiere zu gross geworden sind, in freier Wildbahn ausgesetzt. Das geschieht wohl besonders in der Ferienzeit im Sommer. Weder Pacu-Fische noch Schnappschildkröten können allerdings die harten Winter im Norden Europas überleben."
(Quelle: http://www.tagesanze...story/15277337)
Auf SHZ.de wird allerdings durchaus noch Raum für Spekulationen gelassen (15. August 2013):
"Nach allem, was die Experten wissen, verträgt der Pacu keine Wassertemperaturen unterhalb von acht Grad. "Ein ganzer Bestand wird den Winter in der Ostsee nicht überleben", schlussfolgert der Mann von der Uni Kopenhagen [Rask Møller]. Aber einzelne Exemplare etwa doch? Völlig auszuschließen sei dies nicht, wenn sie Stellen finden, an denen Kühlwasser aus Kraftwerken ins Meer gelassen wird und dieses die Ostsee lokal erwärmt. Das komme gerade an der dänischen Küste mehrfach vor, hält Rask Møller ein bisschen Spannung aufrecht."
(Quelle: http://www.shz.de/sc...id3525666.html)
Nun ja, es könnte also kalt werden für die Zitteraale in der Nordsee. Wobei der Gedanke, dass der Golfstrom ja in der Nordsee für etwas bessere Temperaturen sorgt, etwas Reizvolles hat.
Fassen wir also zusammen: In der Ostsee gibt es durchaus Präzedenzfälle für südamerikanische Süßwaserfische. Ein Zitteraal in der Nordsee ist demnach nicht zu hundert Prozent auszuschließen. Es ist nur sehr sehr sehr sehr unwahrscheinlich.
Also: Zieht beim Schwimmen gut sitzende Badehosen an, Jungs, damit euch der Ball-Cutter nicht erwischt. Und für alle gilt: Schwimmen in der Nordsee ab jetzt nur noch mit Blitzableiter.
© Petra Hartmann